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listen Étienne Lousteau als Liebhaber nimmt. Am Ende kehrt sie aufgrund prag-
matischer Überlegungen an die Seite ihres mittlerweile zum Pair ernannten Gat-
ten zurück, um als Comtesse einem der reichsten Häuser Frankreichs
vorzustehen. Diese Geschichte war schon wegen der vorherrschenden Proble-
matisierung der Institution Ehe, verbunden mit zynischen moralischen Grund-
sätzen, die sowohl der Verführer als auch die ‚Muse‘ Dinah de La Baudraye ver-
breiten, ungeeignet, vor den Augen der Zensoren Gnade zu finden. Schon die
Erstveröffentlichung des Originals im Messager hatte zu erregten Debatten über
die ‚saloperies‘ des Romans geführt, wobei besonders die Szene, in der Lousteau
während einer Kutschenfahrt Dinahs Organdikleid zerreißt, um sie zu kompro-
mittieren und endgültig in seine Arme zu zwingen, als unerhört empfunden
wurde. Den Ausschlag für das Verbot dürfte aber der Umstand gegeben haben,
dass Lousteaus Zynismus auch vor der Religion nicht haltmacht. In einem der
zahlreichen, für den Roman kennzeichnenden Salongespräche verteidigt er einem
Staatsanwalt gegenüber den Ehebruch. Er argumentiert, dass die Literatur aller
Zeiten voll von Beispielen dafür sei. Nicht einmal die Bibel sei davon auszuneh-
men, der Journalist führt die Psalmen Davids, „inspirés par les amours excessi-
vement adultères de ce Louis XIV hébreu“331 (die von den ehebrecherischen
Liebschaften dieses jüdischen Ludwig XIV. inspiriert wurden),332 ins Treffen.
Und auch die Wurzeln der katholischen Religion bezeichnet er als vom Ehebruch
befallen, wobei er auf die unbefleckte Empfängnis anspielt.
Aux yeux du roi Hérode, à ceux de Pilate qui défendait le gouvernement romain, la
femme de Joseph pouvait paraître adultère, puisque, de son propre aveu, Joseph n’était
pas le père du Christ. Le juge païen n’admettait pas plus l’immaculée conception que
vous n’admettriez un miracle semblable, si quelque religion se produisait aujourd’hui
en s’appuyant sur un mystère de ce genre. Croyez-vous qu’un tribunal de police cor-
rectionnelle reconnaîtrait une nouvelle opération du Saint-Esprit?333
(In den Augen des Königs Herodes und in jenen des Pilatus, der die römische Regie-
rung vertrat, erschien die Frau Josephs als Ehebrecherin, weil Joseph nach eigener
Aussage nicht der Vater von Jesus war. Der heidnische Richter konnte die unbefleck-
te Empfängnis ebenso wenig anerkennen, wie Sie ein solches Wunder zugeben wür-
den, wenn sich heutzutage eine Religion auf ein derartiges Mysterium beriefe. Glau-
ben sie, dass ein Landgericht ein solches erneutes Wirken des Heiligen Geistes
anerkennen würde?)
331 Honoré de Balzac: La muse du département. In: La Comédie humaine. Édition publiée sous la
direction de Pierre-Georges Castex, t. IV. Paris: Gallimard (Pléiade) 1976, S. 680.
332 Die Übersetzungen von Zitaten aus La muse du département stammen vom Verfasser, N. B.
333 Ebd., S. 680–681.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
356 6. Fallstudien
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Title
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Author
- Norbert Bachleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 532
- Keywords
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510