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In einem kompositorischen Akt entstehen ineinander verwobene monologi-
sierende, selten narrative Texteinheiten (inzwischen vor allem : »TextflÀchen«),
die durch ihren formalen, lautlichen und/oder inhaltlichen Gehalt Assoziati-
onen bzw. Assoziationsketten hervorrufen. Die Grenzen zwischen Gattungen
und Formen sind kaum mehr erkennbar, auch die auftretenden Figuren sind
nicht als psychologisch-einheitliche Charaktere aufzufassen, sondern als »Ver-
mischungs-, VerschrÀnkungs-, Kunst- und Kippfiguren«396, aus denen Stimmen
des Bewussten wie auch des Unbewussten sprechen.397
Jelineks Sprache »tummelt sich selbst im Wahnsinn«398, befindet Barbara
Alms. FĂŒr die Rezeption bedeutet dies, dass sich viele Texte dem unmittelbaren,
spontanen Verstehen entziehen. Vor allem in jĂŒngeren Texten ist der inhaltliche
»rote Faden« nur schwer erkennbar ; er ist jedoch vorhanden, in die TextflÀchen
eingenÀht ; durch die semantische Verkettung der genannten Texteinheiten
muss er aus der Tiefe erst hervorgeholt werden, immer in direkter AbhÀngigkeit
vom Rezeptionsprozess. Viele Jelinek-Texte zielen auf ein assoziatives Rezepti-
onsverstÀndnis ab. Die Autorin selbst glaubt, unter einem krankhaften Assozi-
ierungszwang zu stehen :
»Irgendwie sind meine Ganglien offenbar so lose verdrahtet, daà ich einen stÀndigen
Assoziierungszwang habe. Wenn ich ein Wort höre, auch im Alltag, muà ich zwanghaft
sofort Alliterationen, Paraphrasen, Metathesen herstellen, Silben vertauschen.«399
Nun pflegt Elfriede Jelinek die Angewohnheit, zwar sehr schnell und viel zu
schreiben, ihre Texte aber immer wieder zu ĂŒberarbeiten, bis diese in einer
Form sind, mit der sie zufrieden ist400, was wiederum als Hinweis dafĂŒr gel-
ten kann, dass sie die Elemente ihrer Texte nicht zufÀllig aneinanderreiht, son-
dern tatsÀchlich einen kompositorischen und klangÀsthetischen Plan verfolgt.
AuĂerdem gilt sie als »Fanatikerin der sauberen Seite«401, die im Zeitalter der
Schreibmaschine ganze Manuskriptseiten neu abgetippt hatte, wenn sie feh-
lerhaft gewesen waren.402 Was Jelineks Neigung zum wiederholten Ăberarbei-
ten zweifelsohne entgegenkommt und darĂŒber hinaus ihren »anarchischen«403
Schreibstil befördert, ist die Tatsache, dass sie schon sehr frĂŒh den Computer
396 LĂŒcke, Elfriede Jelinek, S. 9.
397 Vgl. ebd., S. 8 f.
398 Alms, Triviale Muster, S. 31.
399 Jelinek, zitiert nach : Meyer, Sturm und Zwang, S. 72.
400 Vgl. Mayer/Koberg, Ein PortrÀt, S. 78.
401 Ebd., S. 146.
402 Vgl. ebd.
403 Fuchs/Jelinek, »Man steigt vorne hineinâŠÂ«, S. 20. 75
Poetologische EinfĂŒhrungâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319