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Der 1972 erschienene Prosatext »Michael. Ein Jugendbuch für die Infantil-
gesellschaft« markiert eine Hinwendung Jelineks zu realistischeren Inhalten.438
Sie habe »sehr experimentell begonnen«, so Jelinek, und dann versucht, realisti-
sche Inhalte mit formal und ästhetisch avancierten Methoden zu verbinden.439
Von der Schreibweise der experimentellen Literatur blieben in »Michael« nur
die Kleinschreibung und die fehlende Interpunktion ĂĽbrig, das Wortmaterial
per se hingegen blieb intakt. Die Mythendestruktion erreichte die Autorin in
diesem wie auch in dem nachfolgenden Roman (»Die Liebhaberinnen«) über
konstruktivistische Prinzipien wie Wiederholung, Parallelismus und Anapher.440
Wiederum stehen die Trivialmedien als Träger ideologisch aufgeladener Inhalte
im Mittelpunkt : »›Michael‹ ist die Sprache der elektronischen Medien, die den
Menschen im Spätkapitalismus immer mehr verdummen und auf den Status von
unmĂĽndigen Kindern fixieren. Das geschieht natĂĽrlich im Interesse der herr-
schenden Klasse, der selbstdenkende Individuen gefährlich werden können«441,
so Jelinek. Die Lehrlinge INGRID und GERDA repräsentieren das Zielpublikum
von Illustrierten und Fernsehserien. Vor allem Themen und Ausdrucksweisen
aus damals beliebten Familienserien wie »Flipper«, »Lieber Onkel Bill« oder
»Ida Rogalski« werden aufgegriffen und parodiert.442 Die Sprache des Fernse-
hens wird dabei als Instrument der sozialen Beschwichtigung vorgefĂĽhrt : Das
FernsehenÂ
– als das neue groĂźe Massenmedium der 1960er/70er JahreÂ
– soll die
Trivialmythen im Bewusstsein der Menschen verankern und damit die Welt in
ihrer »unbeweglichkeit«443 halten.444 Ihren Traum vom sozialen Aufstieg wollen
INGRID und GERDA durch Heirat herbeifĂĽhren (wobei der Mann selbst oder gar
romantische Gefühle wie Liebe oder Verliebtheit dabei sekundär sind). Sie las-
sen nichts unversucht, den Firmenchef jeweils fĂĽr sich zu gewinnen. Ihr Traum
von einem besseren Leben kann sich auf diese Weise natĂĽrlich nicht erfĂĽllen.
Stattdessen mĂĽssen INGRID und GERDA wahre Gewaltorgien ĂĽber sich ergehen
lassen.445
»Jelinek transformiert so genannte ›strukturelle Gewalt‹ in Bilder physischer Gewaltan-
wendungÂ
– eine Konstante in ihrem Werk.«446
438 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 145.
439 Jelinek, zitiert nach : Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, S. 12.
440 Vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S. 15 f.
441 Kerschbaumer, Poträt einer jungen österreichischen Autorin, S. 146.
442 Vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S. 16.
443 Jelinek, Die endlose Unschuldigkeit, S. 82.
444 Vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S. 17.
445 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 145 f.
446 Ebd., S. 146.
82 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319