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gerte Jelinek ihre Verfremdungsstrategien drastisch, vor allem in Hinblick auf
die Austauschbarkeit ihrer Figuren. Das Moment der exemplarischen Darstel-
lung gewann damit zunehmend an Bedeutung, die Individualität der Figuren
wurde mehr und mehr eingeschränkt.47
Auch das »Burg theater«-Stück wird, wie durch die knapp gehaltene In-
haltsangabe ersichtlich ist, nicht von einem dichten, sich aufbauenden Hand-
lungsgeschehen, sondern vielmehr von seiner Sprache getragen, genauer : vom
Sprachgebrauch seiner Figuren. Diese haben zwar durchaus benennbare Eigen-
schaften – es handelt sich wie auch in »Clara S.« oder »Totenauberg« sogar um
real existierende Personen, die hier abgebildet werden (Mitglieder der Wessely/
Hörbiger-Dynastie48) – Jelinek möchte ihre Figuren jedoch exemplarisch ver-
standen wissen und nicht als Darstellung konkreter Personen, worĂĽber noch zu
diskutieren sein wird.
Von der Form her ist das StĂĽck relativ konventionell gestaltet : Die Figu-
ren konversieren in Dialogform, auch wenn die einzelnen Aussagen oft nicht
auf zuvor Gesagtes eingehen, sondern durchaus für sich stehen könnten. Von
»Sprachflächen« kann hier jedoch noch keine Rede sein. Die einzige Ausnahme
stellt die bereits erwähnte »Wortsymphonie«49 am Ende des Stücks dar, die von
allen Figuren gemeinsam dargebracht wird.
Die Identifikation mit den Protagonisten wird schon alleine dadurch verhin-
dert, dass von Beginn an in aggressivem Ton miteinander gesprochen, aber auch
handfest mit Gewalt gegeneinander agiert wird. Wie in vielen anderen ihrer
Texte transformiert Jelinek auch im »Burg theater«-Stück strukturelle Gewalt
in Bilder physischer Gewalt50 – diese bilden eine szenische Parallelebene zu
den Dialogen, ebenso wie die wiederholte körpersprachliche Imitation diverser
Theaterrollen (vor allem durch Käthe, Istvan und Schorsch).
Die »Aktionsebene«51 gewann mit den Jahren insgesamt an Bedeutung in
Jelineks dramatischer Arbeit, sie kristallisierte sich schlieĂźlich als zweite Hand-
lungsebene heraus, die aber in vielen Fällen die Sprechebene nicht begleitet,
sondern diese konterkariert.52 Auch in »Burg theater« stehen Sprech- und Akti-
onsebene vielfach in Widerspruch zueinander. So geben die Protagonisten ver-
schiedenste Liedanfänge und Operettentexte wieder oder deklamieren diverse
Theater- und Filmrollen, schlagen dabei aber gleichzeitig aufeinander ein, miss-
47 Vgl. Scholl, Selbstinszenierungen, S. 6.
48 In »Clara S.« wird Clara Schumann, in »Totenauberg« Martin Heidegger mit Lebensgefährtin
Hannah Arendt gezeigt.
49 BT, S. 188.
50 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 145 f. Vgl. auch Kap.1.6.2. dieser Studie.
51 Hochholdinger-Reiterer, Amok, S. 53.
52 Vgl. Scholl, Selbstinszenierungen, S. 6.
116 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319