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3.1.3.1 SCHORSCH
»… daitsch wird gredt !«55
Schorsch tritt als ideologischer Rädelsführer auf, der die anderen Familien-
mitglieder im ersten Teil des Stücks, das 1941 spielt, zur Mitläuferschaft mit
dem neuen Regime animiert und die nationalsozialistischen, groĂźdeutschen
Ideale als seine persönlichen ausgibt. Auffällig an der ihm in den Mund geleg-
ten Ausdrucksweise ist, dass er sehr oft im Imperativ spricht und den anderen
Figuren Anweisungen gibt, was sie zu tun und wie sie zu sprechen haben :
Schorsch : Stillhalten fier Daitschlond ! Patzer seids ! Patzer !56
Schorsch : Brav sein, gscheit sein, SteigbĂĽgelhalter sein !57
Dezidiert an Käthe, seltener an Istvan, richtet Schorsch die wiederholte
Aufforderung, sich, um weiterhin als Schauspieler bzw. Schauspielerin arbeiten
zu können, sprachlich anzupassen und nach der Schrift zu sprechen :
Schorsch : Ich hob dir vorhin scho ernsthoft gesokt, Katherl, daĂź des net ollweil so
weitergeht mitn Semmering und die Alpen und die Liadln. Man konn jo nicht immer
lochen, net wahr. Der Ernst der Stunde verlangt gebieterisch noch einem in GroĂźdait-
schlond ollgemein verständlichen Schriftdaitsch. (…)58
Schorsch : Nana, Katherl … derfst net immer so wüüd sein ! Muaßt jetzt langsam ge-
setzter werden, mit deine drei Gschrappn ! Wildfang ! Bist jo ka Madl mehr… Oba vor
ollem : das Weanerische muaß jetzt langsam aufheern, vastehst ? (…)59
Schorsch : (…) Und daitsch wird gredt ! Sufurt ! Urdentlich daitsch !60
Schorschs wiederholte Zurechtweisungen, Käthe und Istvan müssten nun
endlich lernen, nach der Schrift zu sprechen, damit ihr Schauspiel auch in dem
geeinten Deutschen Reich akzeptabel und ihre Sprache verständlich wären,
wirken äußerst komisch, da er diesen Anspruch selbst bei weitem nicht erfül-
len kann. Tatsächlich gelingt ihm kein einziger »schriftdaitscher« Satz. Allein
seine opportunistischen Intentionen kommen in diesen Aussagen zutage, das
55 BT, S. 140.
56 BT, S. 136.
57 BT, S. 148.
58 BT, S. 133 f.
59 BT, S. 135.
60 BT, S. 140.
118 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319