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phisto«-Roman verarbeitet hat, der von der Karriere des Schauspielers Gustaf
Gründgens in der NS-Zeit handelt.92
Insgesamt scheinen Emotionen und Eigenverantwortung für Schorsch
keine Rolle zu spielen – schließlich ist er ist nur eine »Schablone«. Allein die
Möglichkeiten, die sich ihm und den beiden anderen schauspielenden Familien-
mitgliedern durch die Gegebenheiten des Regimes offenbaren und Ruhm sowie
hohen Verdienst versprechen, scheinen für ihn von Interesse zu sein. Auch Neid
spielt offenbar eine Rolle :
Schorsch : Wann i denk, was die Röckling und der Schnuppi vadient hoben nailich
bei ihnarem Auftritt im Kazett. Stacheldraht und Suchscheinwerfer gaben eine reiz-
volle Kulisse ab für ein menschliches wie kinstlerisches Ereignis. Knackwurst !93
Was mit den Menschen, die in dem betreffenden »Kazett« inhaftiert sind,
passiert, ist für Schorsch demnach nicht nur wurst, sondern sogar »knack-
wurst« – eine ästhetische Verunstaltung Jelineks einer umgangssprachlichen
Redewendung als Mittel der Ironisierung : Hier sollen die vorgeblich künstle-
rischen Ambitionen ihrer Figur destruiert werden. Mit »Röckling« dürfte die
Schauspielerin Marika Rökk gemeint sein, auf die auch an einer anderen Stelle
des Texts angespielt wird94, mit »Schnuppi« Johannes (»Jopi«) Heesters – zwei
Schauspieler, die, ebenso wie Paula Wessely und die Hörbiger-Brüder, im nati-
onalsozialistischen Deutschen Reich erfolgreich Filme drehten und deren Kar-
rieren auch nach 1945 nahezu nahtlos, ohne nennenswerte Konsequenzen oder
Maßnahmen der Entnazifizierung, weitergingen.
Im zweiten Teil des Stücks, der 1945 situiert ist, als der Krieg bereits als
verloren gilt, verabschiedet sich Schorsch genauso schnell vom »braunen
Spuk«95, wie er ihn zunächst als Gegebenheit akzeptiert hatte. Wahre Iden-
tifikation mit der Weltanschauung der Staatsmacht war demnach zu keinem
Zeitpunkt gegeben. Stattdessen wiederentdeckt er plötzlich seine Liebe fürs
»Hoamatl«96 Österreich und lässt sich kurz vor Kriegsende mithilfe eines
Tricks als angeblicher Widerstandskämpfer inhaftieren, womit er nach seiner
Freilassung prahlt :
92 Vgl. theoretische Auseinandersetzungen zu diesem Themenkomplex, etwa : Rathkolb, Führer-
treu und gottbegnadet, oder auch : Wulf, Theater und Film im Dritten Reich. Vgl. auch Klee,
Kulturlexikon zum Dritten Reich.
93 BT, S. 156.
94 Vgl. BT, S. 150.
95 BT, S. 179.
96 BT, S. 132.
124 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319