Page - 147 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Image of the Page - 147 -
Text of the Page - 147 -
der Nicht-Bewältigung, der retrospektiven Negation von Eigenverantwortung
und Mitschuld sowie der Selbststilisierung als Opfer nach dem Niedergang
des so genannten Dritten Reichs, denn Jelineks deklariertes Ziel war es, »mit
den Mitteln der Sprache zu zeigen, wie wenig sich die Propagandasprache
der Blut-und-Boden-Mythologie in der Nazikunst vom Kitsch der Heimat-
filmsprache in den fünfziger Jahren, einer Zeit der Restauration, unterscheidet.
Dieser Sumpf aus Liebe, Patriotismus, Deutschtümelei…, der nach dem Krieg
nie richtig trockengelegt worden ist, war mein Material, das ich zu einer Art
Kunstsprache zusammengefügt habe«228.
Dabei müssen die einzelnen Wörter nicht unbedingt etwas bedeuten.229 Hier
arbeitet die Autorin wiederum vielfach auf der assoziativen Ebene. Herbeizi-
tierte Prätexte aus Filmen und Theaterstücken sollen zwar erkannt, deren In-
halte jedoch als verlogen entlarvt werden. So sollen etwa die chorischen An-
ti-Österreich-Beschwörungen am Ende des Stücks laut Regieanweisung »so
gesprochen werden, dass es ausgesprochen sinnvoll klingt, mit Betonungen und
allem«230. Die Verfremdung soll erst im zweiten Moment erkannt werden
– dies
intensiviert den Bruch mit dem Bekannten und Konventionellen.
»Ich arbeitete gewissermaßen linguistisch am Text, indem ich die Wörter, die schleimig
und verwaschen die faschistische Ideologie transportierten, zu Wortneuschöpfungen
umwandelte, Neologismen, die die ganze Brutalität des Faschismus enthüllen, ohne
daß das einzelne Wort etwas bedeuten muß…«231
Im Folgenden sind, um dieses Verfahren an einem Beispiel sichtbar zu machen,
Auszüge aus Grillparzers »Loblied auf Österreich«, dargebracht von seiner Fi-
gur Otto Von Horneck, und die verfremdete »Anti«-Version aus Jelineks
»Burg theater«-Stück, die aus einem Dialog zwischen Schorsch und Istvan
am Ende des Allegorischen Zwischenspiels extrahiert wurde, einander gegen-
übergestellt :
228 Jelinek, zitiert nach : http://www.rowohlt-theaterverlag.de (Zugriff am 6.6.2007).
229 Vgl. Zitat Jelinek oben, vgl. auch die Regieanweisung zur verkehrten »Österreich-Hymne« in
BT.
230 BT, S. 188.
231 Jelinek in ihrem Essay »Ich schlage sozusagen mit der Axt drein« über ihre Arbeit an »Burgt-
heater«. Der BT betreffende Teil des Essays ist abgedruckt in : Janke, Nestbeschmutzerin,
S. 172. 147
»Burg
theater« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319