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SchlieĂźlich ist es das Privileg der Schriftsteller, die Welt schauend und
schreibend zu kommentieren und in diesem Sinne auch Gesellschaftskritik zu
üben. Diese will nicht gefallen, sondern steht »im Dienste einer politischen Aus-
sage«369 und kann sich – wie im konkreten Fall – eben auch gegen Publikums-
lieblinge richten. Die in dem StĂĽck angegriffenen Personen fĂĽhrten selbst ein
öffentliches Leben und übten starke Vorbildfunktion für mindestens eine Gene-
ration von Österreichern aus. Gerade Paula Wessely – die Wessely – wird gerne
als »österreichische Institution« oder »Vorzeigeösterreicherin« bezeichnet :
»Wenn Paula Wessely bei diversen Lesungen die österreichische Bundeshymne der
Zweiten Republik vortrug, bedeutete dies mehr als nur eine Demonstration groĂźer
heimischer Sprechkunst. Sie selbst galt gleichermaßen als Paradeösterreicherin wie
Vorzeigewienerin (ein Image, zu dem sie selbst durch ihre Rollenauswahl nicht wenig
beigetragen hat).«370
Abgesehen von der Debatte um Jelineks SkandalstĂĽck ist die Involvierung der
Schauspielerdynastie Wessely/Hörbiger in die NS-Propagandamaschinerie in
der Zweiten Republik niemals öffentlich diskutiert worden. Trotz dieser kon-
kreten Bezüge zu realen Persönlichkeiten können/müssen die Protagonisten
des »Burg theater«-Stücks – und dies ist kein Widerspruch – als exemplarische
Figuren gelten, stehen sie doch fĂĽr die Verstrickungen einer gesamten KĂĽnst-
lergeneration in den nationalsozialistischen Machtapparat.371 Werner KrauĂź,
Marika Röck oder Leni Riefenstahl wären als Figuren in einem entsprechenden
Jelinek-Stück ebenso wenig gut weggekommen. Jelinek wählte aber die Wes-
sely/Hörbigers, weil es ihr vermutlich genau um jenen Österreich-Bezug ging,
den sie ĂĽber besagte Schauspielerfamilie herstellen konnte : die Potenzierung
der Opferthese in Gestalt österreichischer Publikumslieblinge372, die aus beruf-
lichem Opportunismus mit einem verbrecherischen Regime kooperierten, die
VerknĂĽpfung mit dem Mythos Burg theater und die Destruktion der scheinbaren
Idylle österreichischer Heimatfilme, über die der faschistische Sprachgebrauch
aus dem Nationalsozialismus in die Zweite Republik transferiert und dort als
Allgemeingut konserviert wurde :
»Schauspieler, österreichische Volksschauspieler … sind wir alle, die wir unsÂ
– in größe-
rem oder kleinerem Repertoire – dieser von Kultur und Ideologie gesättigten, kompro-
369 Fuchs/Jelinek, »Man steigt vorne hinein…«, S. 20. Vgl. auch Kapitel 1.6.1 dieser Studie.
370 Steiner, Die verdrängten Jahre, S. 9.
371 Vgl. die ähnliche Einschätzung von Hochholdinger-Reiterer, Amok, S. 50.
372 Vgl. ebd., S. 47.
172 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319