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den wolle, sei zum intertextuellen Lesen gezwungen, das seinerseits auch wieder
durch Jelineks spezifische Verfahren erschwert werde :
»Schon dieses Diktat zum âșLesen mit Bleistiftâč provoziert bei vielen, auch professio-
nellen, Lesern Abwehr. Zudem reicht die Vertrautheit mit einem literarischen âșKanonâč
nicht aus : Jelinek referiert nicht auf einen Hypotext oder mehrere, die miteinander
kompatibel wÀren, sondern auf viele disparate Hypotexte unterschiedlicher Provenienz,
Wertung und Ideologie, von Kanon bis Pop.«414
Die Kritik zeige sich schlieĂlich der einhelligen Meinung, dass der Roman keine
nacherzĂ€hlbare Fabel habe.415 Und das hat er â im herkömmlichen Sinne â tat-
sĂ€chlich nicht, auch wenn ein ungefĂ€hres HandlungsgerĂŒst auszumachen ist.
Wer die LektĂŒre von »Die Kinder der Toten« dennoch bewĂ€ltigen will, muss
daher die eigene Erwartungshaltung an den Text hinterfragen und gegebenen-
falls korrigieren, denn auch der »professionelle Leser« muss sich letztlich damit
zufriedengeben, dass viele der Intertexte nur assoziativ rezipiert werden können
und auch das Plot nicht immer eindeutig herausgelesen werden kann.
Diese Problematik ist auch an den vorhandenen Unsicherheiten in der Se-
kundÀrliteratur erkennbar. Als Beispiel seien hier die divergierenden Todesarten
einer der untoten Hauptfiguren, Karin Frenzel, genannt, die bei Pontzen und
LĂŒcke angeboten werden : Bei Pontzen wird Frenzel bei einem BusunglĂŒck
lebensgefÀhrlich verletzt, liegt hernach im Koma, versinkt in einem Wildbach
und erliegt schlieĂlich ihren Verletzungen. Bei LĂŒcke kommt Frenzel bereits
bei dem Busunfall ums Leben, stĂŒrzt »aber vielleicht doch« in den Wildbach,
wie die Autorin einrÀumt.416 So paradox es erscheinen mag : Beide Autorinnen
haben irgendwie Recht. Jelineks offen-assoziative Schreibweise lÀsst tatsÀchlich
beide Interpretationen zu, wobei an dieser Stelle darauf hingewiesen werden
muss, dass kein konkreter Hinweis darauf gefunden werden konnte, dass Karin
Frenzel nach dem Verkehrsunfall ins Koma fĂ€llt. LĂŒcke versĂ€umt auĂerdem
die ErwÀhnung, dass es vermutlich eine Art Verdoppelungsfigur ist, die den
»anderen« Tod stirbt.
Jelineks Roman lebt â noch mehr als jeder andere Jelinek-Text â von An-
deutungen, Assoziationen, Kalauern und Vergleichen, wird von sprachlichen
sowie inhaltlichen SprĂŒngen, BrĂŒchen und Schnitten bestimmt.417 Was sich an
Handlung ereignet, ereignet sich nicht im Sinne von Spannungsaufbau oder
414 Ebd., S. 53 f.
415 Vgl. ebd., S. 55. Vgl. dazu Kapitel 3.2.1 dieser Studie.
416 Vgl. LĂŒcke, Elfriede Jelinek, S. 98.
417 Vgl. Mayer/Koberg, Ein PortrÀt, S. 202. 179
»Die Kinder der Toten«â |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319