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Treudes Recherchen zufolge stammt dieser Spruch von Jelinek selbst. Einer
jĂĽdischen Mesusa gleich, die am TĂĽrpfosten angebracht ist, um das Haus zu
schĂĽtzen, sollte er Jelineks Roman schĂĽtzenÂ
– wovor genau, dürfte nicht bekannt
sein.426 Die Schriftrolle weist aber bereits den Weg zum Titel des Romans. In
der Taschenbuchausgabe wurde auf die durchaus erhellende Ăśbersetzung ins
Deutsche leider verzichtet.
Was an Plot aus »Die Kinder der Toten« extrahiert werden kann, lässt sich
wie folgt zusammenfassen : Situiert ist der Roman in einem steirischen Bergdorf
und dessen näherer Umgebung427, einem »Wildalpengebiet mit seinen Seen und
… [einem] Schlößchen des Erzherzogs der Habsburger«428. In einem Prolog
wird von einer nicht näher definierten Erzählinstanz429 die Vorgeschichte einer
Protagonistin erzählt : In der »Pension Alpenrose« werden sieben Gäste von ei-
nem Chrysler Voyager für einen Ausflug abgeholt, dessen Chauffeur »gemäß der
Landessitte«430 leicht angetrunken ist. Mit überhöhter Geschwindigkeit fährt
der ĂĽberfĂĽllte Wagen eine schmale Serpentinen-StraĂźe entlang und kollidiert
mit einem holländischen Reisebus. Vier der Insassen sind sofort tot, auch Karin
Frenzel kommt bei dem UnglĂĽck ums LebenÂ
– jedenfalls dem Anschein nach,
denn die pensionierte Sekretärin und »ewige Tochter«431, die ein Leben lang das
»Herrschaftsobjekt ihrer tyrannischen Mutter«432 gewesen ist, kann/darf noch
nicht sterben : Sie soll als Untote das im Leben Versäumte nachholen.433
KARIN FRENZEL kehrt in die »Pension Alpenrose« zurück, wo sich bereits
andere Untote eingefunden haben, die als »Licht- und Schattenflecken«434
durch die Räumlichkeiten huschen, darunter die Philosophiestudentin Gudrun
Bichler, die sich wegen des universitären Leistungsdrucks in der Badewanne
die Pulsadern aufgeschnitten hat und jetzt einem ebenfalls untoten JĂĽngling
hinterherlechzt, der sich mit Gas vergiftet hat, sowie Edgar Gstranz, ge-
wesene Sportskanone und ehemaliger B-Kaderläufer im österreichischen Ski-
team, der wie Karin Frenzel bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.
426 Vgl. Treude, Die Kinder der Toten, S. 114.
427 Explizit ausgewiesen, etwa auf S. 48 : »… seien wir in der Steiermark ! Dort wollen wir ge-
funden werden.« Oder auch auf S. 59 : »In der Steiermark scheint es einen Ort zu geben, der
Träger des Realen ist…«.
428 KDT, S. 8.
429 Zur Erzählinstanz vgl. 3. 2. 5. dieser Studie.
430 KDT, S. 9.
431 KDT, S. 236.
432 Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 149.
433 Vgl. ebd. Ähnlichkeiten zwischen Karin Frenzel und Erika Kohut aus »Die Klavierspie-
lerin« drängen sich auf, vgl. dazu Kapitel 1.5 dieser Studie.
434 KDT, S. 57.
182 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319