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»Die Vergangenheit besteht aus Phrasen und Legenden. Oder wird sie gleich in Bausch
und Bogen gefÀlscht, geleugnet, weggelogen.«459
Des Weiteren finden sich in Jelineks Roman unzÀhlige intertextuelle Anspie-
lungen auf Werbespots, Musikverse aus dem Austropop, aus Volksliedern, der
Bundeshymne, Moderationen von Radio-/TV-SportĂŒbertragungen sowie auf
Aussagen zeitgenössischer Politiker wieder.
Mayer/Koberg verweisen darĂŒber hinaus auf den Schwarz-WeiĂ-Gruselklas-
siker »Carnival of Souls« aus dem Jahr 1962, den sie als einen von Jelineks Lieb-
lingsfilmen bezeichnen.460 Das Plot des Films erinnert tatsÀchlich mitunter an
einzelne Komponenten des Romans :
Drei junge Frauen lassen sich aus Ăbermut auf ein Autorennen ein. Ihr Fahr-
zeug kommt auf einer schmalen BrĂŒcke von der StraĂe ab und stĂŒrzt in einen
Fluss. Die junge Organistin Mary scheint als einzige ĂŒberlebt zu haben : Stun-
den nach dem Unfall klettert sie scheinbar unversehrt aus dem Flussbecken.
Das Auto liegt am Grunde des Flusses und kann vorerst nicht geborgen werden.
Mary verlÀsst die Stadt, sie hat anderswo ein Engagement als Organistin ei-
ner Kirche bekommen. Die junge Frau verhĂ€lt sich aber merkwĂŒrdig : Sie wirkt
geistesabwesend und geht auf Distanz zu ihren Mitmenschen. Der Grund dafĂŒr
ist, dass sie immer wieder von unheimlichen Gestalten verfolgt wird und sich in
beĂ€ngstigenden EntrĂŒckungszustĂ€nden wiederfindet, in denen sie versucht, auf
sich aufmerksam zu machen ; sie wird aber von ihrer Umgebung weder gehört
noch gesehen. Im Nachhinein ist es so, als ob nichts geschehen wÀre und sie
sich bloà alles eingebildet hÀtte. Dadurch wird MARY immer verschreckter und
abweisender, ihre Umgebung hĂ€lt sie fĂŒr hysterisch. Der jungen Frau aber wird
die Welt der Lebenden zunehmend fremd. Ein verfallender VergnĂŒgungs-Pa-
villon in der NĂ€he der Stadt hingegen strahlt magische Anziehungskraft auf
sie aus : Dort scheint das Reich der lebenden Toten, der »Untoten«, zu sein, die
Mary zu sich rufen. Warum diese im Pavillon weilen und ein Untoten-Dasein
fristen, wird nicht aufgeklĂ€rt. Nach glĂŒcklosen Versuchen, ihrem Schicksal zu
entkommen, gibt Mary dem Ruf der unheimlichen Gestalten nach und folgt
ihnen in den Pavillon. Polizei und BĂŒrger der Stadt rĂ€tseln ĂŒber ihr Verschwin-
den. Wenig spĂ€ter wird das verunglĂŒckte Auto aus dem Fluss geborgen : Nicht
459 So Fritsch in seinem (Leopold Figl auf den Leib geschriebenen) Prosatext »Ein Minister
meditiert« von 1963. Vgl. dazu : Zobl, Leben und Werk von Gerhard Fritsch, S. 39.
460 Vgl. Mayer/Koberg, Ein PortrÀt, S. 200. Die Autoren belegen ihre Behauptung nicht, vermut-
lich beziehen sie ihre Information entweder aus persönlichen GesprÀchen mit der PortrÀtier-
ten oder aus deren auf der Homepage befindlichen Essay zum Film : http://elfriedejelinek.
com (Link »zum Kino«) (Zugriff am 20.6.2011). »Carnival of Souls« ist inzwischen coloriert
und von Savoy Film auf DVD erhÀltlich. 187
»Die Kinder der Toten«â |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319