Page - 194 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
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manistin Moira Mertens. Mit ihrer provokanten Forderung, nur noch untote
Figuren zu verwenden, stelle sich Jelinek klar gegen jede Ă„sthetik der Verle-
bendigung und damit klar gegen gängige abendländische Kulturtechniken und
Lesegewohnheiten.496
Indem sie die Figuren ihres Opus Magnum zu untoten Wiedergängern und
deren Vervielfältigungen werden ließ, schaffte es Jelinek in »Die Kinder der To-
ten«, diesen Anspruch der literarischen Darstellung von schablonenhaftem, ent-
lebendigtem und entindividualisiertem Leben in seine größtmögliche drama-
turgische Intensität zu steigern, wobei sich die Untoten des Romans sowohl in
ihrer Qualität als auch in ihrer Quantität auszeichnen : Auf der einen Seite wer-
den exemplarisch Karin Frenzel, Gudrun Bichler und Edgar Gstranz
ĂĽber hunderte Seiten hinweg in ihren unheimlichen Verdoppelungen begleitet
und ihre Handlungen und Tode (sowie die Tode ihrer Verdoppelungen) aus ver-
schiedenen Perspektiven besichtigt wie etwa in jener eindringlichen Szene des
Romans, in der Karin am Rande des Betonbeckens steht und ihre Kopie (»oder
ist Karin die Kopie ?«497), die zuvor in den Wildbach gestürzt ist, in dem Be-
cken mit dem metallenen Wasser wiederfindet. Auch Gudrun Bichler gibt es
»ein zweites Mal«, die Studentin wird wiederholt »von sich selbst beobachtet«498.
Während einer Zeitreise hat eine Gudrun-»Doppelgängerin«499 Sex mit einem
Unbekannten namens Edgar (eine Verdoppelung von Edgar Gstranz ?) :
»Gudrun-draußen-vor der Tür sieht sich jetzt im Anschnitt schräg von hinten … Und
knallrot, aus der Weiße des Fleisches wie etwas Ungehöriges … hervorspringend, die
spitzige Brustwarze, die in die Hand des Mannes springt und diese knurrend beißt. …
Es schaukeln die Brustsäcke voll unzustellbarer Post an dieser zweiten Gudrun …. Ein
jeder gieĂźt fĂĽr sich allein einen Schluck nach, legt noch einen Span aufs Ferkel drauf,
und dann verbrauchen sie alle beide gehörig Munition.«500
Auch den sexuellen Handlungen wird in solchen Szenen, in denen ein Zombie in
den anderen hineinbohrt und sich durch dessen Körper »fräst«501, jede mensch-
liche Regung genommen. Beobachtet wird ein schablonenhafter Zombie- Sex,
der natĂĽrlich ohne romantische GefĂĽhle, aber auch ohne jede Lust und Begierde
ausgefĂĽhrt wird.
496 Vgl. Mertens, Untote, S. 8 f.
497 KDT, S. 95.
498 KDT, S. 119.
499 KDT, S. 121.
500 KDT, S. 119 f.
501 KDT, S. 121.
194 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319