Page - 199 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
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Dorf liegt, aufzudecken. Gespenstische Visionen und blutgetrÀnkte Spuren im
Schnee sind erste Hinweise auf das VerdrĂ€ngte (»âŠÂ eine Botschaft, die dar-
auf wartet, gelesen zu werden«528). Die unheimliche AtmosphÀre wird von der
Dorfgemeinschaft der vermeintlichen Gefahr zugeschrieben, die von einem
streunenden Wolf ausgeht. Doch der Wolf ist vielmehr Symbol fĂŒr die Schuld,
das schlechte Gewissen und die Angst vor der SĂŒhne : Das Unaussprechliche,
das im Hinterhalt bereitliegt, nimmt »in den MostschÀdeln Wolfsgestalt an
[âŠ]«529. Die unheimliche Szenerie ist von ungewöhnlichen Wettererscheinun-
gen begleitet, Nebel, Wind und stĂ€ndigen RegenfĂ€llen (»⊠ein dĂŒnnes, wei-
nerliches Gewieschel, das die WĂ€lder in graue Schleier hĂŒllte und den Boden
allmĂ€hlich durchtrĂ€nkte«530). Unfreund kommt schlieĂlich dahinter, dass
einige Dorfbewohner kurz vor Kriegsende 1945 sechs Fremdarbeiter ermordet
und in einer alten Ziegelei verscharrt hatten. Sein Vater hatte beim Eingraben
der Leichen geholfen und sich dadurch selbst schuldig gemacht. Um zu verhin-
dern, dass einer der Beteiligten ĂŒber die Geschehnisse berichtet, wurden die
weiteren Morde begangen. Bittere Pointe des Romans : Der Hauptschuldige
und RĂ€delsfĂŒhrer, ein Förster namens Habergeier, ist gerade in den Landtag
gewÀhlt worden und kann sich im Schutze seiner ImmunitÀt der irdischen Ge-
rechtigkeit entziehen.531
In ihrer Rezension zur Neuauflage von Leberts Roman schrieb Jelinek 1991
von der unglaublichen »Ungerechtigkeit, daà die einen tot sind und die anderen
nicht«, weil die einen »dafĂŒr gesorgt [haben], daĂ fĂŒr die anderen alles fĂŒr im-
mer beendet worden ist«. Diese Ungerechtigkeit fĂŒhre schlieĂlich dazu, dass wir
Lebenden »uns selbst stĂ€ndig vernichten mĂŒssen«532.
In »Die Kinder der Toten« hat sie diese Schlussfolgerung literarisch kon-
sequent umgesetzt, denn nicht nur die drei untoten Hauptfiguren erleben
stÀndige Wiederholungen und Variationen ihrer Tode. Auch die ErzÀhlins-
tanz vernichtet sich wÀhrend des Sprechens selbst (»⊠schauen wir nach, was
derweil drauĂen los ist, von wo ich mich einschalte, mir selber den SchĂ€del
einschlage und mich melde«533), ohne dabei jedoch tatsÀchlich zu Tode zu
kommen, denn nach vollzogenem Selbstmord wird munter weitererzÀhlt. Le-
ben und Tod sind nicht eindeutig voneinander abgrenzbar, denn wo die Toten
untot sind, »sind auch die Lebenden nicht recht lebendig«534. Ebenso wie die
528 Lebert, Wolfshaut, S. 66.
529 Ebd., S. 436.
530 Ebd., S. 45.
531 Vgl. Miessgang, Der Querschreiber, S. 106.
532 Jelinek, Das Hundefell, S. 108.
533 KDT, S. 113.
534 Löffler, Unterwelt, unpaginiert. 199
»Die Kinder der Toten«â |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319