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Einmal spricht sie stellvertretend fĂĽr viele Ă–sterreicher, die das Geschehene
vergessen möchten, als könnten sie es dadurch ungeschehen machen :
»Waren wir nun an etwas schuld oder nicht ? Es kommt auf die Interpretation dieses liebli-
chen Bildes an… Entweder wir waren es, dann sind wir zum Handkuß gekommen… Oder
wir waren es nicht, dann vergessen wir doch bitte alles, was nie gewesen ist !«584
»… viele wollen und können es schon nicht mehr hören, ich kanns übrigens auch
nicht.«585
An anderer Stelle schlüpft die Erzählinstanz in die Rolle des Anklägers und fin-
detÂ
– ohne groĂźe Verfremdungen oder Umschweife auskommendÂ
– klare Worte,
die keine AusflĂĽchte zulassen :
»Jetzt sagen wir Ihnen wieder einmal, was sie getan haben, auch wenn Sie das wie jeden
Tag von uns nicht hören wollen.«586
»Die Wahrheit ist nichts Vergangenes. Wir wollen, daß sie wiedererweckt wird. Die
brandigen Toten sollen bitte als neue Welle anrollen, nur hereinspaziert…«587
Zu beachten ist dabei der Entstehungskontext des Romans, die frĂĽhen 1990er
Jahre : Zum einen entschuldigte sich erstmals ein österreichischer Bundeskanz-
ler, Franz Vranitzky, öffentlich für die Taten österreichischer Bürger während der
NS-Zeit und relativierte damit den jahrzehntelang gepflogenen Opfermythos
der Zweiten Republik. Zum anderen eilte Jörg Haider, damals noch FPÖ-Par-
teivorsitzender und Landeshauptmann von Kärnten, trotz Aussprüchen wie
jenem von der »ordentlichen Beschäftigungspolitik«588 im Dritten Reich von
Wahlerfolg zu Wahlerfolg. In Ă–sterreich begann sich in Folge eine doppelglei-
sige Erinnerungskultur herauszubilden, mit der einerseits »gebetsmühlenhaft«589
der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wurde und sich daneben die politi-
sche Rechte trauen konnte, NS-Gräueltaten öffentlich in Frage zu stellen oder
zu verniedlichen.590
584 KDT, S. 450.
585 KDT, S. 452.
586 KDT, 469.
587 KDT, S. 512.
588 Zum Entstehungskontext vgl. Kapitel 3.2 dieser Studie. Zur Widerlegung dieses Mythos vgl.
auch das Kapitel »Beschäftigungspolitik (ordentliche)« in Horaczek/Wiese, Handbuch gegen
Vorurteile, S. 20 fff.
589 Jelinek, zitiert nach : Janke/Kovacs/Schenkermayr, »Die endlose Unschuldigkeit«, S. 19.
590 Vgl. die theoretischen Auseinandersetzungen um den Opfermythos, KapitelÂ
1.4.4 dieser Studie.
206 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319