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anwachsenden, alles rächenden Mure wird in dem Roman schließlich »eins mit
einer Geschichtsapokalypse«709.
Die Natur genießt hierzulande einen hohen Stellenwert, denn Österreichs
Berge und Seen haben einen hohen konkreten (nämlich finanziellen) Wert für
Sommer- und Wintertourismus, die einen wichtigen Faktor für die heimische
Wirtschaft darstellen (»Was hat diese vom Tourismus schon ein wenig angekle-
ckerte Landschaft sich jetzt wieder für sie einfallen lassen ? Ist es das, was die
hier unter Erlebnisurlaub verstehen ?«710) Zum anderen wird die österreichi-
sche Natur nach Jelinek dazu missbraucht, um eben jenen Teil der Geschichte,
den die österreichische Bevölkerung dem Opfermythos entsprechend seit 1945
zu vergessen sucht, im Barthes’schen Sinne zu »ent-historisieren«711, denn bei
Jelinek ist auch die Natur nur scheinbar natürlich :
»Der Mensch hat ein moralisches Interesse an diesem hellen Schein, der die Schönheit
der Natur ausmacht, er vergißt, daß ers war, der der Natur diesen Schein gegeben hat,
indem er sich zu ihr bemühte.«712
Die von der Tourismusindustrie viel strapazierten Bilder von schneebeckten Al-
pen, glitzernden Badeseen und verschlafenen Wanderpfaden werden in »Die
Kinder der Toten« als Mythos entlarvt, indem immer wieder ihre Unheimlich-
keit dargestellt wird : Im Boden der idyllisch scheinenden Natur, die erholungs-
hungrige Touristen im Roman durchwandern, liegen Millionen Ermordete (wie
»Dünger«713), sogar in der Luft befinden sich diese (»Das Land braucht oben
viel Platz …«714), weil das Land gar nicht genug Gräber zur Verfügung stellen
könnte.
Auf den »unheimlichen«, morbiden Charakter der österreichischen Natur
und die Allgegenwärtigkeit der Toten weisen im Text zahlreiche Wortspiele hin :
Zum Beispiel zählen »ein paar Millionen Zerquetschte«715 zu den großen Toten
des Landes, wie gleich zu Beginn des Romans klargestellt wird, wobei die For-
mulierung »Zerquetschte« im Normalfall suggeriert, dass es sich nur um ein paar
wenige handelt
– hier sind die »Zerquetschten« allerdings wörtlich zu verstehen.
Die Natur wird bei Jelinek ihrer Unschuld beraubt, indem sie als etwas bis-
weilen sehr Grausames und Unberechenbares dargestellt ist. Plötzliche Wetter-
709 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 205.
710 KDT, S. 431.
711 Vgl. Kapitel 1.4.3 dieser Studie.
712 KDT, S. 27
713 KDT, S. 47.
714 KDT, S. 7.
715 KDT, S. 7. 227
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319