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dessen problematischem Verhältnis zur Geschichte schlug der »schwarz-blauen«
Regierung allerdings großer Protest entgegen : Zehntausende Österreicher gin-
gen auf die Straße, um an Demonstrationen gegen das Schüssel-Haider-Kabi-
nett teilzunehmen, auch Elfriede Jelinek.1003 Bundespräsident Thomas Klestil
nahm die Angelobung der neuen, schwarz-blauen Regierung nur mit demonst-
rativem Unwillen vor. Die (damals) 14 anderen EU-Staaten sowie die Tschechi-
sche Republik belegten Österreich gar mit diplomatischen Sanktionen, welche
die bilateralen Beziehungen des Landes vorübergehend einschränken sollten.1004
In Folge der massiven Proteste, die vor allem dem – zum Teil auch im Aus-
land – umstrittenen FPÖ-Obmann Haider galten, entschied sich dieser über-
raschend zum Rückzug aus der Bundespolitik und übergab mit tränenerstickter
Stimme die Obmannschaft Anfang Februar 2000 an Parteikollegin Susanne
Riess-Passer. Etwa einen Monat später erschien Haiders persönliche Stellung-
nahme zu seinem Rücktritt in News : »Glücksgefühl nach bangen Stunden«.
Diesen Text nahm Jelinek, wie am Beginn dieses Kapitels bereits dargelegt, zum
Ausgangpunkt für ihren Haider-Monolog »Das Lebewohl«. Mit Haiders Auf-
zeichnungen habe sich ihr die Sprache förmlich in die Hand gegeben, so Jelinek :
»… ein Geschenk des Himmels, so etwas bekommt man nicht oft.«1005
Am 22. Juni 2000 wurde »Das Lebewohl« als Auftakt einer regierungskriti-
schen »Wiener Donnerstagsdemo«1006 am Ballhausplatz im Beisein der Autorin
von dem Schauspieler Martin Wuttke verlesen. Etwa 1.200 Zuschauer verfolg-
ten Wuttkes Darbietung, die mit Kärntner Liedern eingeleitet wurde.1007 Die
Uraufführung am Theater fand noch im Dezember desselben Jahres statt : »Das
Lebewohl« wurde am Berliner Ensemble in der Inszenierung von Ulrike Ot-
tinger gezeigt (für österreichische Bühnen hatte Jelinek ein Aufführungsverbot
ihrer Stücke verhängt, das bis 2002 aufrecht blieb). Auch in der Berliner Insze-
nierung schlüpfte Martin Wuttke in die Rolle des rechtspopulistischen österrei-
chischen Politikers.1008
Dieser hatte offen auf eine Regierungsbeteiligung der FPÖ hingearbeitet und
bereits Mitte der 1990er Jahre seinen Anspruch auf die Kanzlerschaft angemel-
det.
1003 Vgl. Janke, Nestbeschmutzerin, S. 147–150.
1004 Zur »Wende« vgl. den sehr interessanten, mit Begriffen aus der Psychoanalyse operierenden
Essay von Michael Fleischhacker, Die Wende zur Hysterie, oder auch das Buch zum Thema
von Gerfried Sperl, Der Machtwechsel.
1005 Jelinek, zitiert nach : Janke, Nestbeschmutzerin, S. 148.
1006 Die Wiener »Donnerstagsdemos« wurden aus Protest gegen die Bildung der Regierungskoa-
lition von ÖVP und FPÖ über zwei Jahre hinweg wöchentlich abgehalten.
1007 Vgl. Janke, Nestbeschmutzerin, S. 147.
1008 Vgl. ebd., S. 149. 275
»Das Lebewohl« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319