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auch gesellschaftliche Akzeptanz rechten Gedankenguts in Ă–sterreich wider-
spiegeln und damit die unzureichende kollektive, aber auch individuelle Ausei-
nandersetzung mit der belasteten Zeitgeschichte befördern. Die Unterschied-
lichkeit der Themen (Sport, Musik, Medien, Natur, Geschichtsdarstellung und
nationales Selbstbild) sollte dabei Jelineks spezielle Methodik veranschaulichen,
die (in Rückbezug auf Roland Barthes) stets verschiedenste »Mythen des All-
tags« zueinander in Beziehung setzt, um die Manipulierbarkeit der Masse an-
hand bestimmter Sprachgebrauchsformen bewusst zu machen. Die dargestell-
ten Figuren in diesem Roman wie auch bereits in frĂĽheren Texten der Autorin
sind dabei als ent-individualisierte (hier auch : ent-lebendigte) Charaktere, nicht
als sich entwickelnde, psychologisierende Figuren im klassisch dramatischen
Sinne zu begreifen. Insofern stellte der große »Gespensterroman« der späteren
Nobelpreisträgerin 1995 kein Novum im Jelinek’schen Œuvre dar, aber es ist
bis heute »das in seiner thematischen Gigantomanie und seiner sprachlichen
Zerstörungswut radikalste Werk der Autorin«27.
Die analysierten Mythendestruktionen zusammenfĂĽhrend, konnte in diesem
Kapitel abschlieĂźend festgehalten werden, dass trotz aller bestehenden Unklar-
heiten, Ăśberlagerungen, SprĂĽnge und Grenzverwischungen die Aussage des
Texts unmissverständlich ist : »Die Kinder der Toten« ist Jelineks große An-
klageschrift gegen Ă–sterreich. Auch Jahrzehnte nach der Katastrophe bestehe
demnach bei den politischen und wirtschaftlichen Eliten, bei sozialen Reprä-
sentanten (etwa der katholischen Kirche), aber auch in Teilen der Bevölkerung
immer noch kein hinreichendes Unrechtsbewusstsein fĂĽr die Ermordung von
sechs Millionen europäischen Juden und die zahllosen weiteren Verbrechen
des nationalsozialistischen Regimes, was an dem sprachlichen Unvermögen ab-
gelesen werden könne, mit dem im öffentlichen Diskurs Eingeständnisse von
Schuld und Mitverantwortung entweder gebetsmühlenartig wiedergekäut oder
umschifft werden. Die »Bilanz über Schuld und Unschuld«28, die in »Die Kin-
der der Toten« gezogen wird, ist eindeutig.
Im dritten und letzten Teil des empirischen Kapitels wurde Jelineks kleiner,
aber wortgewaltiger Theatermonolog »Das Lebewohl« aus dem österreichischen
»Wendejahr« 2000 analysiert. Die einzige deutschsprachige Interpretation, die zu
diesem »Dramolett« ausfindig gemacht werden konnte, stammt von Bärbel Lücke
und konzentriert sich auf einen möglichen Zusammenhang des Texts zu dem
Foucault’schen Begriff des »Dispositivs« (hier als Machttheorie interpretiert). Da-
neben existiert ein elfseitiger Aufsatz von Allyson Fiddler in englischer Sprache,
der in pointierter und sprachlich klarer Form die zeitgeschichtlichen Zusammen-
27 Radisch, Maxima Moralia.
28 Kastberger, Endspiele.
288 | ResĂĽmee
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319