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sie Jacques Le Goffs bereits Ende der 1970er Jahre formulierten Anspruch nach,
eine Auseinandersetzung mit Geschichte zu leisten, wie sie Menschen gelebt
und erlebt hatten.48 Die »Historische Anthropologie«, die sich seitdem rund um
dieses Forschungsfeld im deutschsprachigen Raum formierte, versammelt eine
Vielzahl methodischer Ansätze. Gemeinsam ist ihnen ihr Interesse am Menschen
und dessen Wahrnehmungs- und Deutungsschemata im Wandel der Zeit.49
Genau diesen spĂĽrt auch die Literatur Elfriede Jelineks nach, denn darin
geht es, wie im empirischen Teil der vorliegenden Analyse gezeigt wurde, in
erster Linie nicht um die Rekonstruktion von Geschichte, sondern vor allem
um deren retrospektive Betrachtung und Bewertung, die anhand spezifischer
Sprachverwendungsformen reflektiert werden. In diesem Sinne befördert das
Jelinek’sche Œuvre nicht nur ein empathisches Verständnis für historische Vor-
gänge und Ereignisse, sondern rückt darüber hinaus Vielschichtigkeiten und
Ambivalenzen in den gesellschaftlichen, politischen, aber auch wissenschaft-
lichen Diskursen ins Bewusstsein. Und darin besteht der besondere »Mehr-
wert«50 von Literatur für die geschichtswissenschaftliche Forschung : nicht die
Rekonstruktion von Geschichte betreiben zu wollen, sondern das Sprechen ĂĽber
Geschichte in seinen mannigfaltigen Diskursformationen ausleuchten zu kön-
nen. Es braucht aber methodisch reflektierte Verfahren, um ästhetisierte Texte
für das wissenschaftliche Arbeiten »bändigen« zu können, denn die Literatur
muss sich bekanntlich nicht an festgelegte Spielregeln halten, wie sie fĂĽr das
wissenschaftliche Arbeiten unumgänglich sind. Gerade Elfriede Jelinek ist eine
Autorin, die ihre Texte bewusst stark ästhetisiert, die mit Assoziationen, Bildern
und Metaphern arbeitet – eben um im Moment der sprachlichen Verfremdung
Klarheit und Sensibilisierung zu erreichen (»Success in Circuit lies«51).
In methodischer Hinsicht sind daher zwei Feststellungen zu treffen, die ein
Forschungsdesiderat bezeichnen, das sich sowohl an die germanistische als auch
an die historische Forschung richtet.
Zum einen gilt : Es ist und bleibt eine Notwendigkeit, sprach- und literatur-
wissenschaftliche Verfahren zur Textinterpretation heranzuziehen ; es hat sich
aber im Rahmen der vorliegenden Studie als fruchtbar erwiesen, das Instrumen-
tarium der neueren Geschichtswissenschaft in diese zu integrieren, um kontex-
tuelle Dimensionen von literarischen Texten und damit auch deren Bedeutungs-
vielfalt besser erfassen und beschreiben zu können.
48 Vgl. Le Goff, Neue Geschichtswissenschaft, Vgl. dazu auch Burghartz, Historische Anthropo-
logie, S. 206.
49 Vgl. Burghartz, Historische Anthropologie, S. 206.
50 Hanisch, Ein Historiker als Leser von Dichtung,S. 166.
51 Dickinson, Gedichte, S. 410. Vgl. das lyrische Motto dieser Studie.
294 | ResĂĽmee
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319