Page - 210 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Image of the Page - 210 -
Text of the Page - 210 -
hier folgt, vielleicht auch deshalb, weil sie aus der Perspektive des Zeitzeugen
und am Literaturbetrieb unmittelbar Beteiligten geschrieben wurde. Dass auch
die österreichische Avantgarde in Kraus’ Aufzählung Platz findet, die mit ihren
avancierten literaturästhetischen Positionen im literarischen Feld zunächst nicht
reüssieren konnte, markiert Kraus’ tolerierende Skepsis gegenüber dieser.
4.1.2 Diskontinuitäten: 1934–1938–1945
Spezifischer herausarbeiten lässt sich Kraus’ Konzept einer österreichischen Lite-
ratur und seine historische Perspektive auf ebendiese aus dem Beitrag „Der
österreichische Roman seit 1945“ für die Anthologie Aufforderung zum Mißtrau-
en (1962), herausgegeben von Milo Dor,63 dem er freundschaftlich verbunden
war. Hier versuchte Kraus eine Kategorisierung der österreichischen Gegen-
wartsliteratur vorzunehmen, an der er Zeit seines Lebens – natürlich komple-
mentär hinsichtlich Autorinnen und Autoren, die aus seiner Perspektive gesell-
schaftliche oder politische Relevanz besaßen –, festhalten sollte. In diesem
Aufsatz leitet Kraus alle Strömungen in der zeitgenössischen Literatur von Robert
Musil, Franz Kafka, Hermann Broch, Arthur Schnitzler, Franz Werfel, Stefan
Zweig, Josef Roth, Ludwig Schönherr, Anton Wildgans und Karl Kraus ab. Er
pflichtet keineswegs den „modischen kulturpessimistischen Formulierungen“
des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg bei, der von der „Zerstörung der
deutschen Literatur“ gesprochen hat, meint jedoch, dass „sich die Literatur von
den Katastrophen des Jahres Null bis heute erst in Ansätzen erholt“64 habe.
Die „charakteristische Wesensart“ des österreichischen Beitrags zur deutsch-
sprachigen Literatur ist für Kraus eminent mit der „Atmosphäre der einstigen
Monarchie, dem an Gegensätzen und Merkwürdigkeiten so reichen ‚Kakanien‘“
eng verbunden, darüber hinaus auch durch die „Einschmelzung starker slawi-
scher Zuströme“, da „gerade in intellektuellen Kreisen die Herkunft aus Brünn,
Prag oder den östlichen und südöstlichen Gebieten sehr häufig“65 gewesen sei.
Die realpolitische Situation der durch den Kalten Krieg bedingten Teilung der
Welt in Ost und West, die Kraus bis 1989 hinsichtlich der Grenzen als gegeben
hinnehmen musste, akzeptierte er hinsichtlich der kulturellen und literarischen
Traditionen in jenen Ländern, die unter sowjetischer Herrschaft waren, nicht,
da sie einen „ungeheuren Verlust“ für Österreich darstellen würde. Dies zeich-
nete sich für Kraus im historischen Kontext daran ab, dass etwa Rainer Maria
63 Vgl. Wolfgang Kraus: Der österreichische Roman seit 1945. Versuch eines Überblicks. In: Milo
Dor (Hg.): Aufforderung zum Mißtrauen. Eine Anthologie. Graz: Stiasny 1962, S. 60–66.
64 Ebd., S. 60.
65 Ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
210 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437