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drängt hat?“, formuliert er tautologisch. Gegen das „Vergessen“ führte er u. a.
Die größere Hoffnung (1948) von Ilse Aichinger, Das Boot kommt nach Mitter-
nacht (1951) von Fritz Habeck, Als Zivilist im Balkankrieg (1947) von Franz
Theodor Csokor und Letzte Ausfahrt (1953) von Herbert Zand an. Darüber hin-
aus nannte er mit Rudolf Kalmars Zeit ohne Gnade (1946) einen zentralen Text
der österreichischen Lagerliteratur,86 um zur Konklusion zu gelangen: „Waren
das die Jahre der Verdrängung?“87 Noch im literaturgeschichtlichen Essay Zwi-
schen Trümmern und Wohlstand, der auf das literarische Leben nach 1945 kon-
zentriert ist, weist Kraus dezidiert darauf hin, dass die „Meinung, in der unmit-
telbaren Nachkriegszeit hätte es einen uneingeschränkten Triumph der
Verdrängung gegeben“, eine „aus mehreren Motiven entstandene Konstrukti-
on“88 sei. Die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Politiken des Erinnerns
an den Nationalsozialismus durften für Kraus nicht auf Kosten des „Images“ der
Zweiten Republik gehen.
4.1.3 Literatur und Katholizismus
Es sind konservierende Tendenzen in Verbindung mit einem bestimmten „Öster-
reich“-Bild, die Kraus antreiben, jene Autorinnen und Autoren, die ihre litera-
rische Sozialisation noch in der Donaumonarchie erfahren haben, wiederzuent-
decken und zu bewahren bzw. jene zu fördern, die literarisch weiterhin an diesen
untergegangenen Kulturraum und dessen „Wurzeln“ anknüpfen. Dieses „Bewah-
ren“, das einem „tiefe[n] Bedürfnis nach Christentum und Katholizität“89 ent-
sprang, machte Kraus auch zu einem „Gatekeeper“ einer österreichischen Lite-
ratur, die an einer neuen nationalen Identität mitarbeitete, wobei für Kraus, wie
gezeigt wurde, immer auch die mitteleuropäische Literatur gleichberechtigt war.
Ein Tagebucheintrag hinsichtlich dieser Kontinuität in der Literatur, auch wenn
diese der Avantgarde zuzurechnen ist, gibt Aufschluss über Kraus’ Auffassung:
„Kunst, soweit sie diesen Namen verdient, steht auch im avantgardistischen
Bereich stets in der Kontinuität. Die Entfremdung von der Natur, die Distanzie-
rung von der Landschaft, die Zertrümmerung der alten Gebäude, die Auflösung
86 Vgl. Martin Wedl: Berichte von der anderen Seite des Zaunes. In: Rudolf Kalmar: Zeit ohne
Gnade. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Stefan Maurer und Martin Wedl. Wien: Met-
ro 2009, S. 247–262.
87 Wolfgang Kraus: Wer verdrängt? In: Die Furche, 24. April 1987, S. 11.
88 Wolfgang Kraus: Zwischen Trümmern und Wohlstand. Das literarische Leben in Österreich
von 1945 bis zur Gegenwart – ein Essay. In: Herbert Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in
Österreich. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 7: Das 20. Jahrhundert. Graz: Akade-
mische Druck- und Verlagsanstalt 1999, S. 539–636, hier S. 560.
89 Ders.: Tagebuch, 27. Februar 1974, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
216 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437