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Joseph Lanner – Leben und Werk
Quodlibet – Potpourri
Der Musikwissenschaftler, speziell der an Schönberg, Webern, Adorno und Ratz geschulte Analytiker,
begegnet dem Quodlibet oder Potpourri mit Misstrauen, ja bisweilen unverhohlener Verachtung. „Die
Aufklärung und das 19. Jh. hatten wenig Verständnis für das Quodlibet, das später oft mit Potpourri
gleichgesetzt wurde.“186 Riemann widmet in seinem Musiklexikon dem Stichwort „Potpourri“ gerade
einen ganzen Satz187, unter „Quodlibet“ finden sich lediglich Verweise auf das 16. u. 17. Jahrhundert188. Im
großen bürgerlichen Konzertabend – mit einer Beethoven-, Brahms- oder Brucknersinfonie als Schwer-
gewicht im zweiten Teil – kommt das Potpourri nicht vor, schon ein Variationenwerk nährt den Verdacht,
hier bediene sich einer billig, dem es an Einfallsreichtum gebricht, an fremdem Gut. Das Potpourri fin-
det seinen Platz dort nur, wo kĂĽnstlerischer Anspruch weder im Werk selbst noch in seiner Wiedergabe
erwartet wird: im Kursalon, in der Sommerfrische. Bis ins 21. Jahrhundert hält sich so ein bestimmtes
Repertoire, das vom gleichen Publikum mit nachsichtigem Lächeln genossen wird, welches im Goldenen
Saal der Residenzstadt die Nase rümpfte, läse es in den Ankündigungen der philharmonischen Konzerte
ein „Zweites beliebtes Wiener Quodlibet mit Motiven aus Paganinis 1. Konzert (mit dem Glöckchen)“
von Lanner oder ein „Drittes Potpourri: Musikalisches Ragout“ von Johann Strauß Vater.
Die gängigen Definitionen bezeichnen mit „Quodlibet“ ein Musikstück, in welchem mehrere bekannte
Melodien – als Zitate oder auch vollständig – lose aneinandergereiht sind, wobei der scherzhafte Charak
ter
(besonders durch Verwendung von Volksliedern, häufig derbem oder gar zotigem Inhaltes) betont wird. Der
französische Ursprung des Begriffs „Potpourri“ verweist auf die freie Gestaltung, die einzelnen Musik stücke
werden durch kurze Ăśberleitungen verbunden. Im 19. Jahrhundert entstanden dann jene Potpourris, welche
bis heute das Bild dieser scheinbar formlosen Form prägen: Potpourris nach beliebten Opern und Tänzen,
zur Unterhaltung, gelegentlich auch zu pädagogischer Absicht arrangiert. Gleichzeitig begannen ernsthafte
Komponisten wie Liszt sich mit Potpourris zu befassen. Thalberg, der sich in Paris in eine heftige Auseinan-
dersetzung mit Liszt verstrickt sah (und der – heute nahezu vergessen – zu seiner Zeit als der bedeutendere
der beiden galt), schrieb Fantasien über gerade aktuelle Opern (von Webers „Euryanthe“ über Meyerbeers
„Robert der Teufel“ und „Hugenotten“ bis Rossinis „Siège de Corinth“ und „Wilhelm Tell“). Liszt schrieb
Paraphrasen ĂĽber VirtuosenstĂĽcke von Berlioz und Paganini ebenso wie Opernphantasien ĂĽber Mozart,
Verdi und Wagner. Im Musiktheater werden als „Potpourriouvertüre“ jene Ouvertüren bezeichnet, in wel-
chen die eingängigsten Melodien des nachfolgenden Bühnenstückes vorgestellt werden.
Als Form ist das Potpourri per se an keine Vorgaben gebunden. Dem Bearbeiter – Komponist wäre meist
zu hoch gegriffen – kommt die Auswahl der Themen und die Gestaltung der überleitenden Takte mit den
notwendigen Modulationen zu, wobei nicht selten die BrĂĽche zwischen Originalteilen und verbinden-
dem Kleister besonders krass ausfallen, je wertvoller die ĂĽbernommenen Melodien, je unbeholfener die
Versuche, bloĂź Nebeneinanderstehendes durch Einheit Stiftendes zu verbinden, sind.
Dabei waren die UrsprĂĽnge durchaus ehrenwert: ein Publikum, welchem die Hofoper, der adelige oder
bürgerliche Konzertsaal verschlossen war, konnte teilhaben an den Novitäten, über welche die Presse
schwärmerisch berichtete. Wer nicht das Glück hatte, die neueste Premiere von Bellini oder Rossini zu
hören oder schlicht nicht das Geld, Paganini in einem seiner seltenen Konzerte in Wien live zu erleben,
dem brachte die Lannersche Kapelle verlässlich ein „Best of“ im nächsten Volksgartenkonzert. Diese
„Reader’s Digest-Form“ hatte ihre unbestrittenen Vorteile: man konnte sich darauf verlassen, dass der
Bearbeiter die schönsten Melodien ausgesucht hatte, man wurde weder von einer störenden Handlung
noch von einem unverständlichen (meist italienischen) Text abgelenkt, und hatte dennoch Anteil am kul-
turellen Leben der Oberschicht. Bis heute bildet das Opernpotpourri das HerzstĂĽck eines guten Kurkon-
zertes (mit einem Straußschen Walzer als krönendem Abschluss), und der Verdacht lässt sich nicht von
186 Honegger/Massenkeil, „Das große Lexikon der Musik“, Freiburg i. Br. 1978 u. 1987, Bd. 6, S. 386, Kapitel „Quodlibet“
von G. Schuhmacher.
187 „Eine bunte Folge von Melodien (Quodlibet, Allerlei)“, Riemann, Musiklexikon, Leipzig, 51900, S. 884.
188 Riemann a.a.O. S. 906; siehe auch Apel, Harvard Dictionary of Music, Bloomington, 121979.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Titel
- Joseph Lanner
- Untertitel
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Autor
- Wolfgang Dörner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Abmessungen
- 21.0 x 29.5 cm
- Seiten
- 752
- Schlagwörter
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang