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Formen
Tour absolviert, blieben ihnen zumindest einige wenige Momente des Verschnaufens). Was das Orchester
spielte, war einerlei, war es kurz und man war nicht bereit, fing man später an, wurde es zu lang, konnte
das Publikum ungeduldig werden. Künstlerische Intentionen wurden nicht erwartet – und lange nicht
geboten. So wenig wie der Tanzablauf ritualisiert war, so wenig wurde die Einleitung vermisst, wenn es
keine gab.
Blickt man die lange Reihe der Lannerschen Werke entlang, so kann man den Wandel von Funktion zu
kĂĽnstlerischer Intention gerade an der Ausgestaltung der langsamen228 Einleitung am besten ĂĽberbli-
cken. Von einigen primitiv hingesetzen Akkorden, gerade gut genug, um ein wackeliges Ensemble zum
Zusammenspiel zu fĂĽhren, bis hin zur hochromantischen Stimmungsmalerei, von kaum ausgearbeiteten
Kadenztakten hin zu abgeschlossenen Formteilen reicht bei Lanner die Palette.
Der Gestaltungsfreiheit Lanners sind am ehesten die Introduktionen zu Ländlern und Walzern offen.
Galoppe oder Polkas erfordern eine knappe, meist viertaktige Einleitung, in welcher das Tempo ange-
schlagen wird. Der Zweivierteltakt nach einem Walzer oder einem anderen Tanz stimmt die Beteiligten
auf einen raschen, nahezu rasenden „Kehraus“-Tanz ein, der als Abschluss einer längeren Walzerfolge
diente (siehe dazu die einschlägigen Anmerkungen zu Galoppen und Polkas). In den Walzern baute sich
die Spannung auf, die im Galopp ihren Höhepunkt fand, eine längere Einleitung zu einem Galopp wäre
geradezu kontraproduktiv gewesen. Der Galopp musste explodieren, musste hineinfahren in das Wal-
zertreiben, ihm Einhalt gebieten durch eine wirbelnde, alle vorangegangene Ausgelassenheit nochmals
ĂĽbertrumpfende nahezu animalische Wildheit, an deren Ende eine abrupte Unterbrechung oder ein Hin-
eingleiten in ruhigere Gefilde stand. Die Quadrille ihrerseits gestattete durch ihre dem Werk immanente
Statik keinerlei Freiraum fĂĽr Einbegleitung. Die Ansage des gestrengen Tanzmeisters ersetzte, was in
Walzern und Ländlern musikalisch schmeichelnd dem Tänzerpaar ins Ohr geraunt wurde.
Spricht man bei Lanner von Introduktion, so muss man unterscheiden, ob es sich um ein Autograph, eine
Stimmenabschrift oder die Klavierfassung handelt. FĂĽr Johann StrauĂź Vater nachgewiesen, fĂĽr Lanner zu
vermuten ist, dass Introduktionen erst nachträglich hinzugefügt wurden. Strauß konzipiert zunächst die
Walzer, lässt am Beginn der Stimmen eine oder zwei Systeme leer, um dort nach Abschluss der Walzer-
komposition die Introduktion hinzu zufügen. Für Lanner können wir dieses Verfahren nicht verifizieren,
auszuschlieĂźen ist es nicht.
Autographe Partituren von Lanner suggerieren einen durchgängigen Kompositionsvorgang, mangels
Skizzen können wir nicht mehr rekonstruieren, ob die Niederschrift mit dem eigentlichen Erfinden Hand
in Hand ging oder nur – wie bei Mozart – das schriftliche Fixieren einer bereits vollständig (ob im Kopf,
ob auf Skizzenblättern, in Particellen etc.) vorliegenden Komposition bedeutete. Für die Introduktionen
lässt sich daher aus den Autographen nichts gewinnen, was zeitliche Niederschrift in Bezug auf die Voll-
endung der restlichen Teile anlangt.
Weiters lässt sich aus dem Vorhandensein einer Introduktion nicht automatisch auf die Ausführung der-
selben bei Tanzveranstaltungen schlieĂźen. Eher lassen Introduktionen an konzertante Versionen denken,
bei denen sich Pracht und Reichtum der sinfonisch breiten Einbegleitungen adäquat darstellen ließen.
FĂĽr einige Werke liegt neben den Stimmenabschriften des gesamten Orchesters eine einzelne Violinstim-
me vor, in welchen Introduktionen und Finali zuweilen fehlen.229
Klavierausgaben bieten „klavieristisch“ gestaltete Introduktionen. Manchmal schimmert die Originalbe-
setzung der Lannerschen Kapelle hindurch, andere Passagen sind eindeutig von den Möglichkeiten, aber
auch Grenzen des Klaviers bestimmt. Die eingangs geschilderte Klage ĂĽber die ausufernden und sinnent-
228 In der Musikanalyse hat sich der Begriff der „langsamen Einleitung“ etabliert, wenngleich viele Einleitungen nicht den
Duktus der Langsamkeit vermitteln. Hat man die Noten nicht vor Augen, entscheidet oft mehr die Interpretation als der
Komponist, was beim Zuhörer als „langsam“ ankommt. (Anm. d. V.)
229 U. a. für op. 123, 126 etc., Details siehe Werkverzeichnis.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Titel
- Joseph Lanner
- Untertitel
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Autor
- Wolfgang Dörner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Abmessungen
- 21.0 x 29.5 cm
- Seiten
- 752
- Schlagwörter
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang