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Autobiografisches  Schreiben
Berthold Viertel ist ein Autobiograf ohne Autobiografie41 – alle Versuche und
Pläne »brachen ab, bald früher, bald später. Ich musste in ein anderes Land
und der Zusammenhang war zerrissen. […] Zwei Weltkriege unterbrachen
mich.«42
Dennoch durchzieht ein Netzwerk von Selbstzeugnissen in verschiedenster
Form die Kästen seines Nachlasses und es ist jedenfalls ein autobiografisches
Projekt Viertels über diverse Neuansätze hinweg nachweisbar. Solch ein Projekt
ist notwendigerweise in der »Kulturgeschichte des biographischen Denkens«
und im Zusammenhang von Individualität und europäischer Moderne zu veror-
ten.43
Auch in Berthold Viertels Fall steht vorerst die »Ideologie des Individuums«
hinter dem autobiografischen »Begehren« und bedingt seine »Vorstellung eine
individuelle Geschichte zu haben, ja zu brauchen«. Und diese Individualität ist –
als »historisch und kulturell spezifisches Konzept« – von »Machtverhältnissen
und Kategorisierungen« geprägt : Sie »ist der Entwurf einer europäischen,
männ lichen, weißen Elite. Die Inanspruchnahme von biographischen Formen
des Selbstbezugs ist damit zuerst einmal die Behauptung, an dieser privilegierten
Position teilzuhaben.« 44 Berthold Viertel gehörte außerdem zu jener bürgerlichen
Bildungsschicht, deren Tätigkeiten und Themen seit dem 19. Jahrhundert auto-
biografische Konventionen formte.45 Dass Männer wie er eine Autobiografie
schreiben können, sollen und wollen, hinterfragte er nicht – er kannte es nicht
anders. In diesem Sinne lebte Viertel jedenfalls ein biografiebewusstes »autobio-
41 Nach Liz Stanley u.a. geht diese Arbeit von einer Untrennbarkeit des Schreibens ĂĽber das Selbst
(Autobiografie) und des Schreibens über den Anderen (Biografie) aus. Die Schreibweise »Auto/Bio-
grafie«, die diese Hybridität veranschaulichen soll, wird allerdings nicht verwendet, da Selbst- und
Fremdbeschreibungen trotz der Annahme ihrer steten Verbindung als solche kenntlich gemacht
werden sollen. Vgl. RĂĽggemeier, Anne, Die relationale Autobiographie. Ein Beitrag zur Theorie, Po-
etik und Gattungsgeschichte eines neuen Genres in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier
2014, 11–14.
42 BV, Fragment Nr. X, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 252.
43 Jancke, Gabriele und Ulbrich, Claudia (Hg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im
Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Biographisches Erzählen
(= Querelles, Bd 10), Göttingen 2005 ; Sieder, Reinhard, Die Rückkehr des Subjekts in den Kultur-
wissenschaften, Wien 2004 ; Smith, Sidonie und Watson, Julia, Reading Autobiography. A Guide
for Interpreting Life Narratives, Minnesota 2001.
44 Gehmacher, Leben schreiben, in : Dreidemy u.a. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte, 2015, 1013–
1026, 1018.
45 Jancke, Gabriele und Ulbrich, Claudia, Einleitung, in : Jancke/Ulbrich (Hg.), Individuum, 2005,
7–28, 15.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359