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gelte Blicke. Das österreichische Antlitz.«15 – Das »österreichische Antlitz« war
für Karl Kraus ein »triumphierender Ölgötze der befriedigten Gemütlichkeit«,
hinter der sich Brutalitäten verbargen, gewesen.16 Diese Gemütlichkeit war den
Ă–sterreicherInnen nun offenbar abhandengekommen und fĂĽr Viertel trug das
aktuelle »österreichische Antlitz […] einen Kaspar-Hauser-Ausdruck, der […]
fragen machte : ›Was hat man dir, du armes Kind, getan ?‹ – Schuldlos-schuldig
sah mancher aus, von seinem Gewissen belastet fĂĽr etwas, das getan zu haben
oder gewesen zu sein er sich kaum erinnerte.«17
Dass der »Volkscharakter« im täglichen Umgang »eigentlich sehr anheimelnd
und liebenswürdig« wirkte, irritierte Viertel etwas.18 Er wusste, dass eine Kon-
frontation mit Restposten faschistischen und nationalsozialistischen Gedanken-
guts und seinen TrägerInnen unausweichlich sein würde.19 In dieser Art ver-
suchte Berthold Viertel also seine »vorläufigen Gefühle« zu klären, die zwischen
Vertrautheit (»Sofort-Wieder-Zuhausesein«), Missbehagen und Mitgefühl
schwankten. Dazu kam aber vor allem »auch Neugier, leise Spannung : wie wird
das werden, diese Doppelkonfrontation, Trippelkonfrontation mit der Kindheit,
dem Ursprung, der angeborenen Vergangenheit, und der jĂĽngeren Vergangen-
heit der Greuel, und der Gegenwart.«20
Solch eine »Trippelkonfrontation« mit »angeborener Vergangenheit«, der
»jüngeren Vergangenheit« des Nationalsozialismus und der Gegenwart des Kal-
ten Krieges bemühte sich das »neue« Österreich 1948 tunlichst zu vermeiden :
Eine rasch aus den sich wieder formierenden Parteien der Ersten Republik
zusammengesetzte, provisorische Regierung unter dem sozialdemokratischen
Staatskanzler Karl Renner hatte am 27. April 1945 – noch bevor der Zweite
Weltkrieg offiziell beendet war – die Unabhängigkeit und Gründung der Zwei-
ten Republik Ă–sterreich ausgerufen. Vielfache personelle und institutionelle
Kontinuitäten banden diese Republik zwar weiterhin an ihre Vergangenheiten,
doch gehörte es zu den vordringlichen Zielen – wie in vielen Nachkriegsregie-
15 Ibid.
16 Karl Kraus, zitiert nach : Melchior, Peter, Die GemĂĽtlichkeit oder der Wille zur Abstraktion, in : Brix
u.a. (Hg.), Memoria Austria, 2004, 271–300, 290–292.
17 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 86.
18 BV an Salka Viertel, 6. bzw. 10. Dezember 1948, 78.881/6, K35, A : Viertel, DLA.
19 Zu persönlichen Begegnungen mit ehemaligen FreundInnen und KollegInnen wie Werner Krauss
und Emil JanningsÂ
– an deren nationalsozialistischen Eskapaden sich Viertel in Essays abgearbeitet
hatte – kam es erst etwas später (BV, Wiedersehen mit Emil bzw. BV, Der deutsche Schauspieler
Werner Krauss, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 21–27).
20 BV, Arbeits-/Notizheft Wien, Ankunft Dez. 1948, 5. Dezember 1948, 69.3142/43, K24, A : Viertel,
DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359