Seite - 105 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 105 -
Text der Seite - 105 -
  Moderne 
in 
Wien |  105
dass Luegers »Noblesse« und »Anstand« mit der »Vulgarisierung und Brutalisie-
rung« der NationalsozialistInnen nicht vergleichbar gewesen seien.27 Viertel
hielt dagegen : »Um es immer wieder zu sagen, weil es immer noch zu wenig
bekannt ist : Hitler ist nicht zufällig ein Österreicher !«28
Aus zwei Parteien habe Hitler später die »Summe« gezogen – aus der christ-
lichsozialen Partei Luegers und der Partei der Deutschnationalen, »die den
Anschluss an das deutsche Reich verlangen, den Kampf gegen Rom fĂĽhren und
die Zeitrechnung nicht mit der Geburt Christi, sondern mit der Schlacht im
Teutoburger Wald« begannen :
Ihr Führer, der Ritter von Schönerer, ist ein direkter Nachfolger jenes Turnvaters Jahn
aus den deutschen Freiheitskriegen. In Ă–sterreich nimmt die Bewegung die Form
einer Irredenta an. […] Sie führen in das Parlament – Wiens farbigstes Theater – die
Obstruktion und die Schlägereien ein, die Brachialgewalt, Gewalt der Stimme und
der Faust. 29
Selbst der fanatische Alldeutsche Georg von Schönerer hatte, wie auch Karl Lue-
ger und Victor Adler, seine politische Karriere als Liberaler begonnen. Die ideo-
logischen Wurzeln dieser drei Männer, die sich später in verfeindeten Lagern
gegenĂĽber standen, lagen alle im sogenannten Linzer Programm, das 1882 die
Vereinigung aller österreichischen Länder deutscher Sprache, Deutsch als offizi-
elle Staatssprache und die außen- und wirtschaftspolitische Annäherung an
Deutschland gefordert hatte.30 Als einstige Liberale, die den konstitutionellen
Parlamentarismus mitentwickelt hatten, waren Lueger, Adler und sogar Schöne-
rer alle als »Väter« den alten Strukturen und dem »Erhalt« des Status quo ver-
pflichtet, während die »Söhne« schon bereit waren, die »Zerstörung« des politi-
schen und gesellschaftlichen Systems in Kauf zu nehmen, ja, sie sogar vorantrieben.
In Wien waren aber nicht nur die politischen Modernisierungen am stärksten
sichtbar – die bald viertgrößte Stadt Europas machte auch sonst gerade eine
rasante Verwandlung von einer biedermeierlichen Kleinstadt in eine moderne
Millionenstadt durch :
… die Petroleumlampen verwandelten sich in Dauerbrenner und diese wieder in elek-
trische Leuchtkörper, aus der Pferdebahn wurde die Tramway und aus dem Wiener
27 Zweig, Welt, 1992, 82–83.
28 BV, Heimkehr nach Europa, geschrieben um den 9. November 1932, 296, K19, A : Viertel, DLA ;
Hamann, Brigitte, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, MĂĽnchen 1996.
29 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
30 Berger, Peter, Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, Wien 2008, 14–15.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359