Seite - 112 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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112 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
In ihrer Ablehnung des »Erhalts« bemerkten allerdings auch die kritischen
»Söhne« der Wiener Kulturszene, umgeben von einer sich rasant verändernden
Welt, die Ambivalenz der Moderne.56 Zum einen schien es damals tatsächlich,
wie Berthold Viertel bemerkte, »Grad um Grad vorwärts und aufwärts zu gehen
mit dem Leben des Menschen, soweit er sich der modernen Zivilisation
erfreute«.57 Doch war dieser »Fortschritt« durch sein selbstzerstörerisches Po-
tential auch suspekt und »die feineren Ohren der Künstler, der Intellektuellen,
der Bohème hören hinter all dem Gedeihen das Friedhofsgras wachsen.«58 Die
Entwicklung der Waffentechnik veränderte etwa das Wesen der Kriegsführung
auf dem europäischen Kontinent,59 doch auch andere Maschinen und Kommu-
nikationstechniken, die das moderne Leben erleichterten, konnten den Men-
schen dem »Menschlichen« entfremden :
Wir haben letzthin gelernt, in Jahrhunderten zu denken – seitdem wir verlernt haben,
uns in den nächsten Stunden auszukennen. Das ist der Nachteil dessen, was wir die
Technik heißen : sie ist eine gütige Fee, welche die Ferne heranbringt, und zugleich
eine Hexe, welche die Nähe auslöscht. Spannungen von Gasen und elektrischen Kräf-
ten jagen uns auf den Straßen dahin, wir schlingen gewaltige Bissen an Distanz hin-
unter […]. So geschieht es uns, dass wir, im Zeichen des beschleunigten Verkehrs, auf
ja und nein ein Jahrhundert um die Ecke gebracht haben ; aber dieses ›Ja und Nein‹
kostet eine Million Menschenleben, ja zwei oder drei Millionen Menschenleben. Auf
die Million kommt es dabei nicht mehr an. In aller Gedankenlosigkeit haben wir uns
an eine höhere Statistik gewöhnt, die mit Zahlen handelt, welche sich der menschli-
chen Einbildungskraft durchaus entziehen. Die Millionen schlüpfen uns nur so durch
die Maschen. Vielleicht steht irgendwo der Teufel bereit, um die vergeudeten aufzu-
fangen und sie zu seinen düsteren Zwecken zu verwenden. Aber meistens ist dieser
Teufel wohl nur irgendein Diktator […].60
Dieser Logik folgend war für Viertel nicht ein Adolf Hitler persönlich für die
Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich : Wenn nicht Hitler, wäre
eben »irgendein Diktator« aus den problembeladenen Spannungen zwischen
56 Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 2005.
57 BV, Dünnes beiges Spiralbuch o.D., o.S., K05, A : Viertel, DLA.
58 BV, Dünnes beiges Spiralbuch o.D., o.S., K05, A : Viertel, DLA.
59 Musner, Lutz, Parabellum. Die dunkle Seite der Moderne, in : Schwarz/Zechner (Hg.), Moderne,
2014. 23–29.
60 BV, Das Ende eines Jahrhunderts. Eine fabulierende Chronik, o.D., 66, K13, A : Viertel, DLA. »Die
Moderne machte den Genozid möglich, als sie das zweckgerichtete Handeln von moralischen
Zwängen emanzipiert hatte. Die Moderne ist zwar nicht die hinreichende Ursache des Genozids,
aber ihre notwendige Bedingung.« (Bauman, Moderne, 2005, 87–88).
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359