Seite - 116 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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116 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
wurde als Beleg dafür verwendet, das Ende der Habsburgermonarchie vorauszu-
sehen als einen »Bankrott eines Reiches«, das »seine Naturschätze nicht zu
verwalten und seine Völker nicht zu entwickeln verstanden hatte, und dem der
Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus ebensowenig gelungen war wie
der Umschwung einer Hausmacht-Politik […] in einen freiwilligen Bund zu
ihrem wahren Selbst erwachter Stämme.«73 – Tatsächlich deutete aber um 1900
kaum etwas darauf hin, dass ein Untergang unmittelbar bevorstand : »The system
was neither bound to fail nor to succeed in the new twentieth century ; rather, it
had the potential to do both at one and the same time,« meinte etwa der Histo-
riker John Boyer.74
Hier nahm Viertel im Rückblick eine Umdeutung vor, denn »Apokalypse«,
»tabula rasa« und eben »Zerstörung« wurde vor dem Krieg von den »Söhnen«
durchaus positiv konnotiert und als »Befreiungsschlag« von alten Strukturen
und neuen Problemen verstanden. Das erklärt auch, warum auch viele von ihnen
den Kriegsausbruch 1914 als Erfüllung ihrer (auch gewalttätigen) Sehnsüchte
nach einer Katharsis begrüßten und zugleich bereit waren, für ihre neue (»deut-
sche«) Kultur zu kämpfen – unter ihnen auch Oskar Kokoschka, Arnold Schön-
berg und Berthold Viertel, aber nicht Karl Kraus.75
Berthold Viertel gab auch an, dass in der Wahl seiner ersten beruflichen Tä-
tigkeit als Regisseur an der Wiener Volksbühne 1911 das »Zusammentreffen der
beiden Motive, des Sozialen und des Künstlerischen […] den Ausschlag«76 ge-
geben habe – seine Arbeit also dezidiert gesellschaftspolitische Wirkung haben
sollte. Obwohl einigen kritisch-modernen »Projekten« durchaus eine »enorme
Sprengkraft« zu attestieren ist, manifestierte sich Kulturkritik vor 1918 kaum in
politischen und sozialen Reformen und es kam zu keiner Revolution oder »Zer-
störung« alter Strukturen.77 Als es nach 1918 im Roten Wien zu einer Politisie-
rung fast aller Sphären des öffentlichen Lebens – auch der Kunst – kam, hatte
Berthold Viertel Österreich schon Richtung Deutschland und Amerika verlas-
sen.
73 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, Dresden 1921, 24–25. Zu Viertels Verständnis der
Begriffe »Stämme«, »Nation« und »Rasse« vgl. »Mitschüler Hitler«.
74 Boyer, John, Badeni and the Revolution of 1897, in : Dreidemy u.a. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitge-
schichte, 2015, 69–84, 84.
75 Rathkolb, Oliver, »Das Befreiende der mutigen Tat« : Die »dunkle« Seite der Wiener Moderne um
1914, in : Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Wien 2014,
14–15.
76 BV, Die Stadt der Kindheit, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
77 Timms, Dynamik der Kreise, 2013, 24–25.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359