Seite - 123 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  Monarchisches 
Gefühl |  123
konkret mit dem späten Nachmittag, an dem die Nachricht vom Tod des Thron-
folgers das Haus der Familie Viertel erreichte :
Die Vorgänge jenes Abends, als sich die Kunde vom Doppelselbstmord Rudolf von
Habsburgs und der Baronin Vetsera tagsüber verbreitet hatte, sind mir geläufig. Aber
ich vermute, dass ich sie später gedichtet oder jedenfalls ergänzt habe, denn ich war
damals erst vier Jahre alt. Als der Vater aus seinem Möbelgeschäft kam, abgehetzt und
immer etwas aufgeregt, war Anna [das Dienstmädchen] verweint und das Gulyas ange-
brannt. Als dann die Mutter, die gleichfalls verweinte Tante Fanny und die etwas ver-
bockte Tante Netti […] aus ihrem Schirmgeschäft […] eintrafen, fanden sie den Vater
miĂźmutig hinter der Zeitung. Er sah schlimme Zeiten voraus. Der Thronfolger war als
ein Liberaler bekannt, verschrien und beliebt gewesen und wahrscheinlich auch wegen
seines Liberalismus […] aus dem Wege geräumt worden. Diese Lesart konnte nie ganz
berichtigt werden, auch nicht, als der Kaiser dem Amtsblatt erlaubte, die näheren Um-
stände der Katastrophe zu veröffentlichen. […] Tante Netti stimmte dem Vater zu, auch
sie hatte gehört, dass die Pfaffen es dem Rudolf besorgt hatten. Tante Fanny verteidigte
den Anteil der Liebe an der Tragödie. Ihr Gefühl bäumte sich gegen die Hartherzigkeit
des Herrschers auf, der seinem Sohn dem Staatsinteresse aufgeopfert, ihn […] zu einer
verhaßten Ehe gezwungen […] hatte. Als Anna das verbrannte Gulyas auftrug, wusste
sie es wieder anders : ein Nebenbuhler des Prinzen bei der Vetsera, ein junger Offizier,
habe ihm bei der Jagd den Schädel eingeschlagen ; die Vetsera sei erst nachher umge-
bracht worden, sozusagen, um dem Kinde einen Namen zu geben. […] Hätten die
Leute damals die haarsträubenden Details gewusst, die später von dem Begräbnis der
Baronin Vetsera bekannt wurden, ihre gespenstische Wagenfahrt als Leiche […], ihr
monarchisches Gefühl wäre vielleicht doch leise erschüttert gewesen.26
Dass der Doppelselbstmord von Mayerling und das daraus resultierende Stigma
einer »Selbstmörderfamilie«27 die Grundfesten des Glaubens an eine bereits ange-
schlagene Monarchie nicht stärker ins Wanken brachte, lag vor allem am »alten«
Kaiser selbst, der wie kaum etwas anderes Sicherheit und Erhalt verkörperte. Allein
die lange Dauer der Regierungszeit Franz Josephs gab der Monarchie eine symbo-
lische Stabilität, die Stefan Zweig in seinem Bild vom »goldenen Zeitalter der
Sicherheit« erfasste.28 Franz Josephs Abbild und Symbol, dem Doppeladler, begeg-
nete man in Österreich auf Schritt und Tritt – »auf Schildern, Münzen, Briefmar-
ken, Gebäuden«29. Für Schriftsteller der erhaltenden Vätergeneration wie Felix
26 BV, Wiederkehr des kleinen Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 43–44.
27 Leidinger, SelbstAuslöschung, 160.
28 Zweig, Welt, 1992, 14–15 und 19.
29 BV, Die Zeitgenossen, Dezember 1950, 310, K13, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359