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130 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
1880 lebten in Galizien 68,3 Prozent der jüdischen Bevölkerung ganz Öster-
reich-Ungarns.5 Zu ihnen gehörten die Viertels und die Klausners. Von diesen
in Galizien lebenden Jüdinnen und Juden brachen »[z]wischen 1881 und 1910
[…] mehr als ein Viertel […] in die Vereinigten Staaten auf.«6 Generell war die
Habsburgermonarchie also ein Auswanderungsland, was in Darstellungen, de-
ren Hauptfokus auf der habsburgischen Binnenemigration liegt, oft untergeht.
Nachdem mit der überfälligen formalrechtlichen Gleichstellung der Jüdinnen
und Juden ab 1849, aber vor allem mit dem Staatsgrundgesetz 1867 »die letzten
Schranken [gefallen waren], die sie bis dahin in der freien Wahl des Wohn- und
Arbeitsortes innerhalb des eigenen Staates« gehindert hatten,7 fand eine »große
historische Völkerwanderung« auch innerhalb des Habsburgerreiches statt.8
Ziel waren die Städte, hauptsächlich Wien, wo der jüdische Bevölkerungsanteil
noch 1848 nur ein Prozent ausgemacht hatte. Zwischen 1869 und 1890 stieg er
auf 12 Prozent an.9 Um 1880 stammten 10,8 Prozent der in Wien lebenden
Jüdinnen und Juden aus Galizien10 – darunter wiederum die Herkunftsfamilien
Berthold Viertels, die in den 1870ern zugewandert waren. Rechtliche Gleich-
stellung und Sicherheit waren Hauptmotive, um den weiten Weg aus einer
Region des Kontinents, in dem noch pogromartige Zustände herrschten, auf
sich zu nehmen. Doch auch die Hoffnung auf sozialen Aufstieg war ein starker
Antrieb : Galizien zu verlassen hieß, den ersten Schritt zu setzen, um ein etab-
liertes Mitglied des deutschen Bildungsbürgertums zu werden – zahlreiche
»Erfolgsstorys« belegten das.11
Die Generation von Berthold Viertels Vater Salomon war mit den neuen
Möglichkeiten, die das Staatsgrundgesetz bot, bereits groß geworden und nutzte
sie immer öfter. Trotz ihrer Abstammung von »besseren Familien« öffnete sich
diese in den 1860ern geborene Generation rasch der Chance auf Integration in
eine neue Zeit und legte dabei auch, langsam oder schneller, das »für die mo-
derne Welt schwer verständliche Adelsgefühl jüdischer Familien, das sich auf
Tradition gründete und die feinsten Unterschiede kennt«, ab.12 Zwar wurde
5 Lichtblau, Albert (Hg.), Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-Jüdische Lebensgeschichten aus
der Habsburgermonarchie, Wien 1999, 45.
6 Pollack, Martin, Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Wien 2010, 80.
7 Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 1999, 48, 56 und 84.
8 Pollak, Michael, Kulturelle Innovation, in : Botz u.a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, 2002, 97–112, 98.
9 Einleitung der Herausgeber, in : Botz u.a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, 2002, 19.
10 Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 1999, 53–54. Im Volkszählungsmaterial zwischen 1880 und
1923 ist der Geburtsort der nach Wien zugezogenen Juden/Jüdinnen dann nicht mehr ausgewiesen.
11 Ibid., 50–52 (Auflistung der Beweggründe für die Binnenemigration).
12 BV, Konvolut Autobiographie. Österreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359