Seite - 138 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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138 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
Nicht nur in Berthold Viertels Fall ist die Aneignung ostjüdischer Herkunfts-
geschichten durch »Westjuden« ein komplexes Thema. Eine neue Wertschät-
zung und Aufwertung des osteuropäischen »Judentums« standen um 1900 in
Zusammenhang mit dem qualitativ neuen Antisemitismus. Theodor Herzl re-
agierte mit der politischen Utopie des »Judenstaates«, doch es war vor allem der
Religionsphilosoph Martin Buber, der die identitätsstiftende Macht des »Juden-
tums« erkannte und sie als »jüdische Erneuerung«, als »Erlebnis« und »Blutge-
meinschaft« vermittelte. Dieser Kulturzionismus, der mit Nietzsche lebensrefor-
merische Ermächtigung zur Selbsterlösung predigte und deutsche Romantik
mit jüdischem Chassidismus verband, sprach junge Juden wie Berthold Viertel
an, die mit westlichen Denktraditionen und einem löchrigen Wissen um jüdi-
sche Geschichte und Traditionen aufgewachsen waren.38 Viertel wurde spätes-
tens im Ersten Weltkrieg von diesem Rückbesinnungstrend im Umfeld des ihm
nahestehenden Expressionismus erfasst, als er zum ersten Mal selbst nach Gali-
zien kam. Es ist dabei nicht zu klären, ob er zwischen 1915 und 1917 seine ga-
lizischen Verwandten näher kennenlernte oder sie überhaupt aufsuchte – seine
autobiografischen Texte und auch seine Korrespondenz geben darüber keinen
Aufschluss. Sein Essay Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit und andere Ge-
schichten und Gedichte aus dieser Zeit dokumentieren aber den Einfluss Bu-
bers beim Blick auf die kulturell unangepassten, authentischen »Ostjuden« –
auch bei Viertel definierte der Westen weiterhin das Niveau, auf das sie noch zu
heben waren, und beeinflusste seine Projektionen.
Ähnlich wie bei Karl Kraus war auch Viertels Leben sehr »wenig eine
Familienangelegenheit«39, umso mehr was seine Herkunftsfamilie betraf. Diese
kritische Distanz hat sich ebenso in das autobiografische Projekt eingeschrieben
wie Galizien als der exotische Mythos eines kritischen Modernen. Das wird
unter anderem sichtbar, wenn Berthold Viertel 1928 im amerikanischen Pend-
leton ein folkloristisches »Round-Up« erlebt und hingerissen von den »India-
nern« ist, die ihn durchgehend an das ihm ebenso fremd gebliebene Galizien
erinnern : »So war ich dieser Tage in Galizien, aber in einem noch tieferen, noch
geheimnisvolleren Urwinkel davon.«40
38 Stach, Reiner, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt am Main 2008, 52–57 ; Stach, Frühe Jahre,
2014, 457–458.
39 Karl Kraus contra … : die Prozeßakten der Kanzlei Oskar Samek in der Wiener Stadt- und Landes-
bibliothek, hrsg. von Herwig Würtz, bearb. u. kommentiert von Hermann Böhm, Wien, Bd 4, 1997,
352–354 ; Timms, Edward, Karl Kraus. Apokalyptic Satirist. The Post-War Crisis and the Rise of the
Swastika, London 2005, 539–541.
40 BV an Salka Viertel, September 1928, 78.857/5, K34, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359