Seite - 154 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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154 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
genommen, wenn auch nicht konsequent gelebt. Obwohl Austritte aus der jüdi-
schen Religion Ende des 19. Jahrhunderts zunahmen und Mischehen üblicher
wurden, verboten die Klausners ihrer Tochter Fanny, Berthold Viertels »Lieb-
lingstante«, die Ehe mit einem Christen und verursachten so, Viertel zufolge,
ihren tragischen »Abstieg« :
Noch schreckt in diesen Kreisen das Vorurteil vor der sogenannten Blutmischung
zurück. Der jüdische Gatte wird ihr durch Familientratsch und Heiratsvermittlung
zugesellt. Er ist ein Syphilitiker. Bei ihrem Sohn wird Wahnsinn ausbrechen und der
frühe Tod des Mannes unter schrecklichen Erscheinungen wird sie ohne Zuflucht,
ohne Hilfe lassen. Sie wird proletarisieren und eines Tages im Armenhaus sterben,
nachdem ihr schönes […] Gesicht zu einer […] grausigen Maske erstarrt ist.18
Die Daten zu dieser Geschichte sind spärlich : Feige/Fanny Klausner heiratete
einen gewissen Adolf Quittner, der im Oktober 1914 mit 52 Jahren verstarb. Sie
selbst starb im Februar 1934 mit 64 Jahren, aber wo und unter welchen Umstän-
den ist nicht nachvollziehbar. Der gemeinsame Sohn hieß Paul Quittner und
war 1917 Manufakturlehrling.19
Anders als bei Feige Klausner machte die Familie für den jüngsten Sohn
Leo – das »Genie der Familie« – durchaus religiöse Zugeständnisse, denn da
ging es um eine »glänzende Zukunft«. Er soll »Vorzugsschüler im Schottengym-
nasium, ein Stipendiat der Pfaffen«20, gewesen sein. »Trotz seiner Mittellosigkeit
wurde er, und obwohl Jude, in dem alten Gymnasium, an dem katholische Pries-
ter unterrichteten unterstützt und als Paradeschüler gehalten.«21 Der »Bildungs-
drang«, das »Bildungskapital« der jüdischen Bevölkerung, belegt durch die ho-
hen Prozentanteile jüdischer Studierender an Gymnasien und Universitäten,
wurde inzwischen viel diskutiert.22 Dass jüdische Bildungskarrieren Neid her-
vorriefen und diverse Formen des Antisemitismus beförderten, war auch Bert-
hold Viertel bewusst :
18 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA ; Licht-
blau (Hg.), Als hätten wir …, 2009, 58–61 ; Rozenblit, Juden Wiens 1988, 133–151.
19 Vgl. http://friedhof.ikg-wien.at (zuletzt : 23.11.2016) ; Verlassenschaftsabhandlung Heinrich Klaus-
ner, BG Neubau, A4/6 : 6A 364/17, WStLA.
20 BV, Konvolut Autobiographie. Österreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
21 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
22 Beller, Steven, Wien und die Juden 1867–1938, Wien 1993, 53–81 ; Beller, Soziale Schicht, in : Botz
u.a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, 2002, 67–83.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359