Seite - 157 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Katholische
Dienstmädchen | 157
war um 1889 erst elf Jahre alt. In den Jahresberichten des Schottengymnasiums
findet sich auch kein Beleg über seinen Schulbesuch.31 In Viertels Briefen
tauchte das »Genie« Leo Klausner aber später immer wieder als »Sorgenkind«
auf, das früh nach Berlin ging, um journalistischen und anderen Gelegenheits-
arbeiten nachzugehen. Auch Berthold Viertel beschäftigte ihn 1923/24 in sei-
nem avantgardistischen Theaterunternehmen Die Truppe. Nachdem dieses Un-
ternehmen gescheitert war, schrieb er an seinen Freund Karl Kraus :
Von den Residuen der »Truppen«-Krankheit will ich gar nicht reden. Das Ärgste, ein
lebendiger Alpdruck, ist Leo Klausner, der hier hilflos herumliegt. Um ihn aus seinem
Hotel auszulösen und nach Wien zu expedieren, dazu allein würde man 500 Mark
brauchen. Er ist nicht ganz ohne Schuld an diesem Zustand, denn er hat sich einge-
bildet, hier etwas zu finden, und ist nicht fortgegangen, als er es noch eben hätte
können. In Wien hat er eine Wohnung fast umsonst […], er könnte bei Verwandten
essen und eher etwas finden. […]. Nun […] sitzt [der Ärmste] bei mir und wird
langsam zur Mumie mit Beinhautentzündung […]. Verzeih, lieber Karl, dass ich Dir
solche Dinge erzähle.32
Danach verliert sich im autobiografischen Projekt wie auch in der Korrespon-
denz Leo Klausners Spur. Die letzte Quelle ist ein Gedenkblatt in der »Central
Database of Shoah Victims’ Names«, demzufolge er am 19. September 1941 in
Berlin von NationalsozialistInnen ermordet wurde – die genauen Umstände
sind unbekannt.33
Es wird mit Blick auf die historischen und familiären Kontexte jedenfalls
deutlich, dass weniger die Schwängerung des »Dienstmädchens« als das »öster-
reichische Schicksal« aufstrebender Juden im Zusammenhang mit dieser Ge-
schichte um »Marie« Viertels Thema war.
Und doch war das »katholische Dienstmädchen« selbst für Berthold Viertel
auch auf andere Weise wichtig, die in der Geschichte des »Onkels« mit anklang :
In ihm verbanden sich »Österreich« und »Katholizismus« als Vertrautes und
Fremdes und wurden nicht zuletzt libidinös besetzt. Schon ein erstes sexuelles
»Ereignis« stand in Zusammenhang mit »österreichischen« Dienstmädchen.
Viertel datierte es auf 1897, als seine Schwester Paula geboren wurde und er acht
Jahre alt war : »Wieder ist eine polnische Amme im Haus, die in Anfällen von
Wildheit, sich mit dem Knaben balgt und ihn fanatisch erhitzt. Erste Ge-
31 Jahresbericht des Gymnasiums zu den Schotten in Wien, 1880 und 1895, Sign.: B 4754, WBR.
32 BV an Karl Kraus, 11. Juni 1924, H.I.N. 166170, Sammlung Berthold Viertel (in Folge : Sammlung
BV), Handschriftensammlung (in Folge : HS), WBR.
33 Gedenkblatt von John A. Francken : http://www.yadvashem.org/ (zuletzt : 23.11.2016).
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359