Seite - 160 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Moderne
Da wuchs der alte Lindenbaum, / Da träumten wir so manchen Traum, / Wir
schnitten’s in die Rinde ; / Wir weinten’s in die Winde. / Ich spür es ewig am Geruch
/ Vom grauen Tuch, Marientuch, / Wie warm ich dort gelegen, / Und ohne mich zu
regen.41
Auch im Zusammenhang mit dem »katholischen Dienstmädchen« wurde nicht
zuletzt Viertels eigene Zerrissenheit zwischen alter und neuer Zeit, zwischen
»kakanischer« Nostalgie und kritischer Zerstörung derselben deutlich. Im »ka-
tholischen Dienstmädchen« fand er ein durchaus restauratives, verklärendes Bild
fĂĽr den multiethnischen Territorialstaat Ă–sterreich-Ungarn, das fast an das
sonst so heftig abgelehnte Schnitzlersche »süße Mädel« erinnert. Er sprach in
diesem Kontext sogar von »stiller Fassung, welche den österreichischen Charak-
ter so heroisch macht«42 und vom »Altösterreicher […] in seiner noblen
Solidität«.43 Auch das ist – ebenso wie das »Vorauswissen«, wie sich der »öster-
reichische Charakter« entwickeln würde – eine Exilperspektive.
Nach dem Ersten Weltkrieg verbesserten sich die Arbeitsbedingungen von
Hausangestellten – sie wurden besser bezahlt und auch seltener. Diese Entwick-
lung war für Personen, die über dreißig Jahre von der ständigen Präsenz und
UnterwĂĽrfigkeit von Dienstboten profitiert hatten, nicht leicht anzunehmen.44
So blieb auch Berthold Viertel, der durchgehend »Kindermädchen« für seine
Söhne beschäftigte, in Hollywood Köchin und Chauffeur hatte und alltägliche
Hausarbeiten nur in Ausnahmefällen selbst verrichtete, in Sachen »domestic
servants« zwischen seiner Modernität und alten Prägungen gefangen. Es war
eben ungleich schwerer, hierarchische Verhältnisse aufzukündigen, deren man
selbst täglich so sehr bedurfte, dass Alternativen nur schwer vorstell- und um-
setzbar waren.45
41 BV, Das graue Tuch, in : Kaiser (Hg.), Viertel, Das graue Tuch, 1994, 159.
42 BV, [Marie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 32–22.
43 BV, Der Mitschüler Hitler, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 128–129.
44 Thébaud, Françoise, Der Erste Weltkrieg. Triumph der Geschlechtertrennung, in : Duby/Perrot
(Hg.),Geschichte der Frauen, 1997, 33–92, 85.
45 Vgl. Lee, Virginia Woolf, 1997, 354–356.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359