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164 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
sie. Sie hätten diese galante und gemächliche Wiener Welt, die sich auf ihren humor-
vollen Charme und auf ihre Eleganz so viel zugute tat, am liebsten in die kräftigen
Hände nehmen und zerdrücken wollen. Sie waren aber meistens sehr gutmütige
Leute, wenn auch manchmal zur Tücke neigend. Die abgefeimte Niedertracht, die so
gut mit der Wiener Leichtlebigkeit zusammenging, die erstaunliche Brutalität, die aus
all der leutseligen Behaglichkeit der Ureinwohner plötzlich hervorbrechen konnte,
war ihnen fremd.21
Salomon Viertel fühlte sich als »Wohltäter« dieser »groben, ungebildeten […]
Bauerntölpel« (auf deren Wohlwollen er allerdings angewiesen war) und lebte
damit seinem kleinen Sohn eine ähnliche Überlegenheit vor wie das Dienst-
mädchen. Berthold Viertel interessierte es im autobiografischen Projekt, diesem
Überlegenheitsgefühl auf den Grund zu gehen. Er meinte Unterschiede zwi-
schen den jüdischen und den tschechischen EinwanderInnen im Umgang mit
dem durch die deutsche »Leitkultur« ausgeübten Assimilationsdruck und damit
einhergehender Diskriminierung beobachtet zu haben :
Der Unterschied war der, dass die Czechen die Komik, die auf ihre Kosten ging, mit
Erbitterung ablehnten, während die Juden über sich selbst zu spotten und durch die-
ses Medium die anderen lächerlich zu machen verstanden. Sie hatten durch eine lange
Geschlechterreihe hindurch, die Übung erworben, fremde Missachtung und fremdes
Missverständnis zu ertragen, sich solchem Übel scheinbar zu fügen und unterzuord-
nen, in ihrem Inneren aber – wie in einem Ghetto des Geistes und des Herzens, das
jeder einzelne mit sich herumtrug
– ihre eigene Welt sich zu erhalten und auf sie stolz
zu sein.22
Im jüdischen »Ghetto des Geistes und des Herzens« wurde die jüdische Identi-
tät zunehmend durch etwas ersetzt, was eben schwammig als »deutsche Kultur«
bezeichnet wurde und wird. Die TschechInnen hingegen reagierten auf Herab-
würdigung mit der Entwicklung und dem Ausbau eines starken Nationalgefühls
und -stolzes. Sie pflegten in Wien ein reges kulturelles Leben in Cafés, auf
Bällen und in Vereinen, galten bald als die explosivste Kraft im Nationalitäten-
konflikt des Habsburgerreiches und führten einen »Spezialkampf um die Unab-
hängigkeit ihrer Nation«23. Bereits 1867 hatte der Ausgleich mit Ungarn Böh-
21 BV, Österreichische Illusionen/Der Knabe Robert Fürth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
22 BV, Konvolut Autobiographie. Österreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
23 Csáky, Gedächtnis der Städte, 2010, 145–149 ; BV, Konvolut Autobiographie. Österreichische Illu-
sionen (3
Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359