Seite - 177 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 177 -
Text der Seite - 177 -
Luegers
Wien | 177
ruar 1884, hatte Schönerer erstmals ein Türschild mit der Aufschrift »Juden ist
der Eintritt verboten« bei einer Parteiversammlung anbringen lassen.18 Auch
wenn sie all das wahrnahmen, war um 1890 nichts vorauszuahnen.
1895 drang der politische Antisemitismus erstmals direkt in den Lebensbe-
reich der Viertels ein und Salomon Viertel, »immer ein inoffizieller Präsident in
der Republik der männlichen Herzen seines Stadtbezirks«19, wurde im Zusam-
menhang mit Luegers Wahlerfolgen politisch aktiv. Als »jüdischer Möbelhänd-
ler« von Lueger als »Ausbeuter« bezeichnet, bei dem der »arme Handwerker am
Samstag Nachmittag betteln gehen« musste, fühlte er sich direkt betroffen.20
Berthold Viertel war damals zehn Jahre alt :
Der Vater des Knaben führt, als der Hauptaufwiegler einer Gruppe von Kaufleuten,
einen Kampf der Selbsthilfe, der ihn vor Gericht bringt, wegen Wahlbeeinflussung.
Diese Gruppe von Möbelhändlern hat beschlossen, Tischler zu boykottieren, die
christlichsozial-antisemitisch wählen. Der Vater verteidigt sich vor Gericht selbst und
erzielt einen Freispruch. Der Knabe nimmt an diesen Aufregungen teil und erhält
einen Anschauungsunterricht in den Ideen des Liberalismus. […]. Überall ist Ent-
zweiung.21
Inmitten dieser Krisen hatte sich der inzwischen bewusst jüdische Volksschüler
Berthold Viertel schon in den vergangenen Jahren an Gott gewandt, wobei er
immer wieder betonte, all seine Vorstellungen über ihn abseits des Religionsun-
terrichts entwickelt zu haben. Er sei ein »großer Beter« gewesen, allabendlich in
heimlichen Gebeten, »umständlich und kunstgemäß« ausgeführt : »Kein Jota
durfte ausgelassen, übersprungen oder vergessen werden. Ich bin sicher, dass
viele Kinder so gebetet haben und auch heute immer noch so beten.«22 Offenbar
vermischten sich in den Gebeten des Kindes jüdische und christliche Elemente.
Gott war für Viertel vor allem ein »Freund«23, der sichtbar und zugänglich war.
»Gottesfurcht«, wie sie die Volksschule lehrte, behauptete er nicht gekannt zu
haben.24 Wenig später waren die zornigen »Propheten des alten Bundes«, die er
»in einem vergilbten Buch« entdeckte, ein mächtiges Vorbild. Auch diese Ent-
18 Berger, Kurze Geschichte, 2008, 15–16 ; Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 2009, 97 ; Lichtblau,
Integration, in : Brugger/Keil u.a. (Hg.), Geschichte der Juden, 2006, 447–566, 465.
19 BV, [Marie], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 28.
20 Rede des Bürgermeisters Karl Lueger, 20. Juli 1899, abgedruckt in Sobol, Weiningers Nacht, 1988,
145.
21 BV, Autobiographie. Österreich. Illusionen, o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
22 BV, Tausend und ein Tag, o.D., o.S., K61, A : Viertel, DLA.
23 BV, Die Septima, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
24 BV, Gott, o.D., o.S., K10, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359