Seite - 194 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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die in Österreich die Konfessionslosigkeit herbeiführt.«50 Viertel behauptete
allerdings auch für solche Übergetretenen ein »jüdisches Minoritätsbewusstsein
und Unterbewusstsein.«51
Als Angehöriger einer Minderheit wurde der Glaube an »Nationen und
Gruppen und Rassen und Zeiten« alltäglich in Frage gestellt, wie der Kunsthis-
toriker Ernst Gombrich erklärte : »Alle diese kollektiven Begriffe sind mir ei-
gentlich ein Greuel.«52 Diese Haltung kann einerseits auch für Viertel als gültig
angenommen werden, andererseits beschäftigten ihn diese Konzepte in ihrer
Irrationalität zeitlebens – auch, als sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegen
Deutschland wandten. Als es 1942 um die »Bestrafung« des »deutschen Volkes«
ging, das von dem Historiker Emil Ludwig kollektiv verurteilt wurde, erwiderte
Berthold Viertel :
Ist es heute, nach den Erfahrungen, die wir am Nationalsozialismus machen, noch
möglich, und gar für einen Hitlergegner, ein Volk – also ein lebendiges Reservoir
vielfachen gegensätzlichen Strebens, zugleich Träger und Objekt von historischen
Strömungen und dem Kräftespiel politischer Machtballungen ausgesetzt – wie ein
einzelnes Subjekt zu beurteilen, es gar in Bausch und Bogen zu verurteilen ? Man
hätte denken sollen, daß eine solche Verallgemeinerung auch schon vor dem Natio-
nalsozialismus fĂĽr einen historisch, soziologisch und psychologisch gebildeten Men-
schen kaum mehr möglich gewesen wäre. […] Die gegen den deutschen Volkscharak-
ter ausfahrenden Invektiven gehören zu den verheerendsten Wirkungen des
Hitlersystems im allgemeinen, des von ihm entfesselten totalen Krieges im besonde-
ren. […] Der Wunsch, Völker zu bestrafen, bleibe Hitler vorbehalten, seine Praxis
verschwinde mit ihm von der Erdoberfläche.53
Auch der Zusammenhang zwischen »Judentum« – »Was immer das sein mag :
Judentum«54 – und Nation blieb ein Thema. Viertel stellte sich dabei gegen jede
Art von Diskriminierung und Nationalismus, also auch gegen einen jĂĽdischen
Nationalismus. Palästina – selbst »bedroht« und »in Frage gestellt« – wurde als
»Land ältester und neuester Verheißung« problematisch für ihn.55 »Hitlers größ-
ter Erfolg« war für Viertel auch :
50 Victor Adler, Testament, 07.11.1913, zitiert nach : Braunthal, Victor und Friedrich Adler, 1965,
329–330.
51 BV, K. K. Erzjude, in : Arbeits-/Notizheft, o.D., 69.3143/97, K27, A : Viertel, DLA.
52 Gombrich, »Niemand hat je gefragt …«, in : Botz u.a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, 2002, 85–94, 89.
53 BV, Zur Debatte über den deutschen Volkscharakter. Befreiung oder Bestrafung der Völker ?, in :
Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 161–163, 161–162.
54 BV, Kindheits-Saga, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956, 285.
55 BV, Die Juden, o.D., 100/a–b und 243, K13, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359