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Jugendliche
Kulturanarchisten | 203
wegen ihres aufregenden, revolutionierenden Inhalts, sondern wegen ihrer vorzügli-
chen, gediegenen Form. […] Mein Onkel erwähnte nicht einmal den aggressiven
Witz, der doch die Seele dieses mir zur Nachahmung empfohlenen Stiles war.41
Die damals selbst erst 25-jährige »Anti-Autorität« Karl Kraus – ein unabhängi-
ger, kulturanarchistisch gesinnter Bürgerschreck – wurde für den 14-jährigen
Viertel ab nun zunehmend bedeutend. Er lieferte den »Lehrstoff«, auf den es
eigentlich ankam, und »erzog« seine LeserInnen zu selbständigem Denken, kri-
tischer Lektüre und autonomen Urteilen.42
Viertel war in diesen Dingen ein gelehriger Schüler und sein Widerspruch
richtete sich bald auch gegen Karl Kraus selbst, der Viertels Gegenposition des
Zitierens »würdigte« : »[…] schon in Nummer 4 druckte Karl Kraus einige Zei-
len aus dem Brief eines Schülers B-d V., die dessen von einem Artikel der Fackel
abweichende Meinung in Dingen des Gymnasialunterrichts enthielten«43. Im
Sommer 1899 hatte sich Kraus der Darstellung der »Mängel des Gymnasial-
wesens« angenommen und kritisierte unter anderem »zelotische« jüdische Reli-
gionslehrer.44 Der noch nicht ganz 14-jährige Viertel entgegnete, dass diese
Religionslehrer keineswegs so terroristisch, sondern im Gegenteil »schwache
Greise« seien. Für Kraus war das, was Viertel »zur Vertheidigung des Lehrers«
vorbrachte nichtsdestotrotz »die treffendste Ad absurdum-Führung des Un ter-
richts«45. – Im November 1899 kam er dann nochmals auf den Brief zurück :
»Jetzt sehe ich erst, wie recht Sie mit Ihrer Vertheidigung des geplagten israeli-
tischen Religionslehrers hatten.«46 Auch Viertel musste seinen Widerspruch
einschränken, als er es im Religionsunterricht am Obergymnasium mit dem
»Zeloten« Jakob Reiss zu tun bekam.47 Der erste Kontakt zwischen Kraus und
Viertel war damit hergestellt, wenn auch bis zum persönlichen Kennenlernen
noch einige Jahre vergingen.
Während also Berthold Viertel im letzten Jahr des alten Jahrhunderts vor-
wiegend am neuen, Lehrstoff der »inoffiziellen«, »externistischen« Lehrer Al-
tenberg und Kraus interessiert war, stand im Mariahilfer Gymnasium weiterhin
41 BV, Erinnerungen an Karl Kraus, undatiert [August 1948 begonnen], 227, K13, A : Viertel, DLA.
42 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, Dresden 1921, 22 ; Djassemy, Irina, Die verfolgende
Unschuld. Zur Geschichte des autoritären Charakters in der Darstellung von Karl Kraus, Wien
2011, 25.
43 BV, Erinnerung an Karl Kraus bzw. Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel,
Cherub, 1990, 184–185 bzw. 78.
44 Kraus, Die Fackel 9–15 (1899) und Die Fackel 13 (1899), 27–28.
45 Kraus, Die Fackel 13 (1899), 31.
46 Kraus, Die Fackel 24 (1899), 31.
47 BV, Die Septima, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359