Seite - 216 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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jeder Lage und trotz alledem Vertrauen habe zu dem innersten Kern Deines Wesens.
Ich gebe Dich lange nicht ›verloren‹, Du Esel.40
Während in der Familie Viertel die Wünsche und Möglichkeiten von Berthold
wahrscheinlich kaum zur Diskussion standen, setzten sich Victor und Emma
Adler mit ihrem Sohn intensiv auseinander – damals eine Seltenheit in Eltern-
Kind-Beziehungen, die zumeist klare Machtbeziehungen waren. Ihnen lag vor
allem daran, dass sich ihr Sohn durch die Matura das sogenannte »Einjährigen-
Recht« erwarb. Seit 1868 war auch in Österreich nach preußischem Vorbild eine
verkĂĽrzte Form des Wehrdienstes eingefĂĽhrt worden. Rekruten mit Matura oder
Realschulabschluss mussten nur ein Jahr anstelle der sonst ĂĽblichen drei Jahre
dienen. Einjährig-Freiwillige hatten auch sonst Privilegien, mussten sich aber
auf eigene Kosten ausrĂĽsten und versorgen. FĂĽr Eltern aus dem BĂĽrgertum, die
ihren Söhnen eine universitäre Ausbildung oder einen raschen Eintritt in die
Berufslaufbahn ermöglichen wollten, war diese Option sehr attraktiv.41 Wenn
Karl das also erreichte, stand es ihm – so Emma und Victor Adler – frei, nach
Amerika oder Afrika zu gehen, Buchhändler, Kontorist oder Ziegelschürfer zu
werden.42 Ganz ernst nahmen sie Karls Pläne aber offenbar doch nicht.
Am 30. Juni 1903 – die beiden Freunde hatten wenige Wochen vorher beide
ihre 18. Geburtstage gefeiertÂ
– war endgültig klar, dass Karl Adler und Berthold
Viertel die Matura nicht bestanden hatten. Das war aber nur Wasser auf den
Mühlen ihrer »Theorie« und Karl Adler schrieb seinem Vater : »Die da mit eini-
gem Wissen vollgepropft alles Übrige nicht sehen […], ich habe kein Brett vor
dem Kopf, das mich zu sehen hindert, wie herrlich die Welt ist, wie unendlich
schön und kraftvoll. […] Ich […] lasse mich nicht kastrieren um ein zweckmä-
ßiges Schräubchen in der ungeheuren Kastratenmaschine um mich her zu
werden.«43
Berthold Viertel und Karl Adler beschlossen nun jedenfalls, sich von den
»Lebens- und Berufsangeboten der bürgerlichen Gesellschaft«44 ganz abzuwen-
den : In der Nacht auf den 9. Juli 1903 verließen sie heimlich ihre Elternhäuser
im sechsten Bezirk, um am Westbahnhof einen Zug zu besteigen, der sie in die
Welt und ins Leben hinaus führen sollte und »zum Volke – zum Proletariat, das
40 Victor Adler an Karl Adler, 11. April 1903, fol. 7–8, K1, M1, T1, Teilnachlass Karl Adler, VGA.
41 Deák, István, Der K. (u.) K. Offizier 1848–1918, Wien 1991, 109.
42 Karl Adler an Victor Adler, 30. Juli 1903, M76, T3, Adler Archiv, VGA ; Victor Adler an Friedrich
Adler, 24.Â
Mai 1903, M69, T1, Adler Archiv, VGA.
43 Karl Adler an Victor Adler, 29. Juni 1903, fol. 11–13, K1, M1, T1, Teilnachlass Karl Adler, VGA.
44 BV, Paris bzw. Heimkehr nach Europa, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 139 u.
276.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359