Seite - 248 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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von knapp ĂĽber 1,5 Millionen.14 Es gab keine streng abgegrenzten Zonen und
so war Prostitution sehr sichtbar, ganz »normal« und Viertel erklärte : »Wenn
ich die Prost.[itution] erfunden hätte, täte es mir leid – aber dass ich an ihr
teilnahm, mitschuldig werde, sie mir zum Problem stellte, bedaure ich
nicht.«15
In seinem Herkunftsmilieu und den »sich, selten genug, anknüpfenden Be-
kanntschaften mit Mädchen seiner Gesellschaftsklasse« konnten abweichende
Positionen zu Geschlechterverhältnissen oder geschlechtlichen Identitäten
nicht zur Sprache kommen.16 Junge Frauen wie Viertels eigene Schwestern
Helene und Paula wuchsen »behütet« und unfrei auf – geschlechtsspezifische
Erziehungspraktiken entfremdeten Geschwister unterschiedlichen Geschlechts
einander frĂĽh. Dennoch wurde die fĂĽnf Jahre jĂĽngere Helene Viertel fĂĽr ihren
Bruder eine Vertraute innerhalb der Familie, die er in seine Rebellion gegen die
Werte der Eltern jedenfalls teilweise miteinbeziehen wollte : »Mehr um die gute
Helene kümmern ! Durch das bloße Beispiel lässt sich manches erreichen. Sie
von altjungferlicher Empfindsamkeit, autosuggestiver Selbstbeobachtung und
Selbstbeeinflussung fortführen.« Die fast zwölf Jahre jüngere Paula empfand der
Bruder »ihrer animalischen Ungedämpftheit« als »eine Nervositätsquelle« – sie
blieb ihm zeitlebens fremder.17 Helene und Paula dürften keine höhere Bil-
dungseinrichtung besucht haben, die aber sowieso eine Fortsetzung der häusli-
chen Erziehung zur Haus-, Ehefrau und Mutter bedeutet hätte.18 Bis sie heira-
teten, halfen die beiden in den elterlichen Geschäften mit. Helene nähte gut
und betrieb später, zeitweise zusammen mit ihrer Schwester, Kleinunternehmen
in der Textilbranche.
Auf Bällen und »beim Tee« begegnete Berthold Viertel auch anderen jungen
»Damen«, die er als »Helferin, Führerin, Ruferin, Beschützerin. Muse – nein,
Gottesherold – nein, Schutzengel«19 verehrte. Gerade diese »Liebschaften in
den besseren Häusern […] der Stadt« bestärkten ihn aber auch darin, »die an-
dere Seite« zu nehmen und »dieser Welt erst recht den Kampf [zu] erklären«.
Dabei wurde die »die sexuelle Ausschweifung […] Prinzip« und »Protest gegen
die Welt der bürgerlichen Bälle«20. Am Beginn stand dabei eine »antiheterose-
14 Anderson, Vision, 1994, 100 ; Walkowitz, Judith R., Gefährliche Formen der Sexualität, in : Duby/
Perrot, Geschichte der Frauen, 2006, 417–450.
15 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
16 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 119.
17 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
18 Simon, Hintertreppen, 1993 ; Anderson, Vision, 1994, 48–58.
19 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
20 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359