Seite - 250 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Moderne
Möglichkeiten seiner »doppelgeschlechtlichen Naturanlage« (nach Otto Wei-
nin ger) unbefangen erkunden konnte.30
Diesen Auffassungen begegnete Berthold Viertel, als Otto Soyka um 1906
Kontakte zu der in der Kulturszene neu ankommenden Generation knĂĽpfte :
Männer, die er in der Art eines »Mentors« zu fördern suchte, interessierten Otto
Soyka dabei nicht nur intellektuell, sondern auch erotisch. Den »bildschönen«
Karl Adler und den offenbar ebenfalls gutaussehenden Berthold Viertel lernte
er bald nach ihrem Pariser Abenteuer im Café Central kennen.31 Soyka verliebte
sich auf der Stelle »mit […] leidenschaftlicher Qual«32 in Adler, den Soyka aber
nicht interessierte. Berthold Viertel erinnerte sich 1948 :
Damals war [Soyka] […] der Rebell gewesen, der die Autorität von Karl Kraus nicht
mehr gelten ließ, der sie […] durch eine fortlaufende vernichtende Analyse […] zu
unterhöhlen trachtete. […] [D]ie Analyse Soykas hatte – und nicht nur im Fall Karl
Kraus – Macht über mich gewonnen, sie faszinierte mich, wenn ich ihr auch wider-
sprach und sie zu widerlegen versuchte. […] Er glich einer aus Stendhal und Balzac
kombinierten Figur. […] Das Knabenhafte in ihm, dass er systematisch überkompen-
sierte : als Hasardspieler, Duellant, als Erotiker. Er war fĂĽr Karl Adler, den er liebte,
und mich, der schließlich ihn liebte, eine liaison dangereuse. Er lebte ›jenseits der
Sittlichkeitsgrenze‹ (so hieß ein […] Essay den er mir diktierte), und wir versuchten,
es ihm gleichzutun. Er sprengte den Liebesbund zwischen Karl und mir, tat es be-
wusst, im Kampf um Karl, den er nicht gewann.33
Nach Peter Altenberg wurde Soyka der nächste selbsterwählte »Lehrer« Viertels
und erweiterte im Kontext »sexueller Emancipation« diesen Begriff : Die Idee
des »pädagogischen Eros« – also dass »körperliche Anziehung ein wirksamer
Antrieb des Lernens sein kann« – erlebte um 1900 eine Renaissance und wurde
vor allem auf LehrerInnen und SchĂĽlerInnen gleichen Geschlechts angewandt.34
Vor einem humanistischen Bildungshintergrund waren Viertel (erotische) Men-
torenbeziehungen wahrscheinlich noch geläufiger, doch ob der Begriff »Liebes-
bund« tatsächlich eine homosexuelle Beziehung beinhaltete, kann und soll
rückwirkend nicht festgelegt werden – auch Viertel selbst lagen solche Etiket-
tierungen fern :35
30 Timms, Kraus, 1999, 270–281 ; Kraus, Die Fackel 237 (1907), 20
31 Soyka, Erinnerungen ans Café Central, in : Lynkeus, Heft 16/17, Frühjahr 1981.
32 David Oppenheim, zitiert nach : Peter Singer, Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien,
Hamburg 2003, 34.
33 BV, o.T. [ZĂĽrich, 4. August 1948], in : Rotes Heft, o.D. [1948], o.S., NK16, A : Viertel, DLA.
34 Holmes, Schwarzwald, 2012, 144.
35 Göttert, Macht und Eros, 2000, 10–14. Interessant ist, dass »Homosexualität« Viertel in Folge
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359