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Sexuelle
Emancipation | 259
[…] [I]hrem Glück dienen wollen, das war, wer ahnt bis zu welchem Grade und in
welchen unwahrscheinlichen Formen, bisher ! Das andere wäre : sie beherrschen, sie
zum Glück zwingen, sie Weib machen, Mutter machen ! […] Ich lebe an der furcht-
baren Grenze, wo das Weib endet und der Mensch beginnt, wo der Mensch endet und
das Weib beginnt. Wäre ich nur erst weniger Dilettant in dieser […] Jungfrau von
Ehe !80
In einer späteren Überarbeitung des Kriegstagebuchs hielt Viertel fest : »Hätte
der Friede einen Monat länger gedauert, wären wir vielleicht auseinandergegan-
gen. […] [S]o kam es zu dieser Verwirrung, daß ich es nicht wage, eine Ehe zu
brechen, die eigentlich keine mehr gewesen war.«81 Obwohl Berthold Viertel in
Folge seitenlang seine neuentdeckten Gefühle für seine Ehefrau beschrieb,
wurde ebenso klar, dass er diese Ehe doch »brach« und an der Front sexuelle
Beziehungen zu anderen Frauen hatte – »Aber wir brauchen unentrinnbar den
Sexus ! !« –, und nun zunehmend besorgter wurde, dass Grete Viertel sich in
gleicher Weise »revanchierte« – »b.v., du bist lächerlich !«, meinte er zu sich
selbst.82 Das Scheitern einer Neuformulierung des Geschlechterverhältnisses
dokumentiert Viertel auch in seinem zu dieser Zeit entstandenen Essay Karl
Kraus. Ein Charakter und die Zeit :
Die Frage der Zeit nahm eine Allzumenschliche – vielleicht ihre eigenartigste – Wen-
dung in der Frauenfrage. Nachgeborene mögen staunen, daß wir plötzlich mit solcher
Dringlichkeit, so methodisch und so radikal, nach dem Weibe zu fragen […] began-
nen ; […]. Erst ging es um Gleichberechtigung ; die Epoche suchte in der Frau den
Menschen, und zwar den modernen Menschen. Da fand sie die Hysterika. Aber bald
wurde diese Oberflächenbewegung […] durchbrochen von einem vulkanischen Stoß
tieferer, heißerer Schichten. Den modernen Menschen hatte das Weib, das ihm glich,
nicht genug gefreut. Ein Müssen riss ihn hin zum Gegensatz. Man suchte bald, mit
tragischer Besessenheit, die elementare Frau, die absolute Frau, die Frau überhaupt.83
Eine solche Frau meinte Berthold Viertel im Dezember 1916, während seines
Fronturlaubs, in Wien in der 27-jährigen Schauspielerin Mea (eigentlich : Salo-
mea Sara) Steuermann, »Salka« genannt, gefunden zu haben. Gleich der erste
80 BV, Kriegstagebuch (Manuskript, Heft ohne Umschlag), o.D., o.S. [Juli bis September 1915], K18,
DLA.
81 BV, Kriegstagebuch (Manuskript, Heft mit blauem Umschlag), o.D., o.S., K18, DLA.
82 BV, Kriegstagebuch (Manuskript, Heft ohne Umschlag), o.D., o.S. [Juli bis September 1915], K18,
DLA.
83 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956,
240.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359