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Sexuelle
Emancipation | 263
Um 1926 geriet nach der Geburt des dritten Sohnes die so bereits geöffnete
Ehe in eine Krise, nachdem Berthold Viertel Affären mit Schauspielerinnen wie
Sybille Binder und Ehmi Bessel hatte. Hollywood sollte kurz darauf für das
Ehepaar ein neues gemeinsames Leben bringen, doch unter den dortigen Bedin-
gungen kehrten sich Berthold und Salka Viertel erst recht gegeneinander. 1928
brachte eine, in Briefen gut dokumentierte, Ehekrise, die vor allem dadurch
bedingt war, dass Salka Viertel in Amerika vorerst jede berufliche Möglichkeit
abhandengekommen war und sie sich zum »film-wife« degradiert fühlte.96 Sie
wehrte sich nun dagegen, dass Berthold Viertel sie als »Stammesmutter« und
»Riesin« wahrnahm, um seine »Sehnsucht nach kleinen Mädchen haben zu
können.«97 Berthold Viertel schloss daraus : »Das Verhexte an der Ehe (das
Tragische […]) ist : daß sich die Regungen gegenseitig verfehlen. Man kommt
immer wieder wechselseitig zu spät oder zu früh.« Immer noch sah Berthold
Viertel »so viel ›Blutsverwandtschaft‹ […], soviel Fatum« in seiner Beziehung zu
Salka, es sei »schon fast ›medizinisch‹ und deshalb doch nicht weniger ›roman-
tisch‹«.98 Beide gingen aber in den folgenden Jahren schließlich langfristige
Partnerschaften mit anderen ein.99 Für Salka Viertel endete die Ehe rückbli-
ckend 1932/33 : »I […] ceased loving [Berthold] sexually. I am sure he also did
not love me anymore that way. There were others between us and while he re-
sented that G[ottfried] and O[liver] were in love with me, I was completely
indifferent about his affairs.«100 All das war zwar kein Grund für eine Scheidung,
aber es handelte sich nun um eine »weiße Ehe« – finanzielle Abhängigkeiten,
aber vor allem ein enges freundschaftliches Vertrauensverhältnis, belegt durch
eine umfangreiche Korrespondenz, trugen die Verbindung weiterhin, über die
Berthold Viertel schrieb :
Ich kann es nur chassidisch begreifen : daß eben die Seelen einander zuwachsen […],
daß Menschen zu uns gehören […], Voraussetzung ist aber das Ganze, und die Wur-
zel ist unser Verwachsensein. Daran hat sich für mich nichts geändert. Es lässt sich
nicht konventionell erklären, es lässt sich überhaupt nichts erklären, man kann nur
daran leben und daran sterben […]. Nun weißt Du ja […], daß die Menschen, die uns
zuwachsen, es ohne Rückhalt tun
– und wir sie verantworten müssen. Daran ist nichts
Schlechtes, nein, tragisch ist ohnehin alles, und für alles was lebendig ist, gibt es eine
96 Ibid., 102–104.
97 Salka Viertel an BV, 4. September 1928, 78.907/3, K45, A : Viertel, DLA.
98 BV, Tagebuch 1930, 10. Mai 1930, o.S., K22, A : Viertel, DLA.
99 Prager, Salka Viertel, 2007, 120–121.
100 Salka Viertel, Tagebücher, 14. März 1965, A : Viertel, Salka, DLA.; Viertel, Das unbelehrbare
Herz, 1970, 286.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359