Seite - 308 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 308 -
Text der Seite - 308 -
 
308  | Erinnerungsorte 
der 
Wiener 
Moderne
ler-Sozialismus« der deutschen Revolutionstage weitergedacht.77 So gründete
Viertel 1923 mit der »Truppe« ein eigenes Ensembletheater in Berlin, das sich
in ideeller Fortsetzung des VolksbĂĽhnengedankens der AuffĂĽhrung gesell-
schaftskritischer und literarischer Dramatik gegen Schund und Startheater
verschrieb.78 »Truppen«, die in der Krisis des »kapitalistischen Theaters« den
Ensemblegeist gegen die »Machtfülle des Startums« hochhielten, waren für
Berthold Viertel jene »lebendigen« Organismen, die das Theater durch gemein-
schaftliches Agieren, Experimentieren und Philosophieren »retten« konnten :79
Es ergibt sich zuletzt die Frage : kann man das Theater ›retten‹, ohne zuerst die Welt
gerettet zu haben ? Ist das Theater nur ein Spiegel, der die allgemeinen Zustände re-
flektiert, so daß erst eine Änderung dieser Zustände das Theater ändern wird ? Stellt
die Not der Zeit nicht dringendere Aufgaben ? Oder : besitzt das Theater ein Eigenle-
ben, von dem es auf alles übrige Wirkung ausstrahlen kann ? […] Das Eigenleben des
Theaters soll nun unbedingt bejaht werden, und zwar durch eine TheatergrĂĽndung in
Berlin, also durch die Tat am gefährlichsten Orte.80
Mit der GrĂĽndung der Truppe erreichte Viertels Haltung, dass Theater auf die
Gesellschaft wirken konnte und sollte, einen Höhepunkt. Es war auch kein
Zufall, dass alte Kollegen von der Wiener Freien Volksbühne – wie Rudolf
Forster und Fritz Kortner, die inzwischen als »Stars« galten – sich dieser idealis-
tischen Unternehmung anschlossen. Viertels Truppe scheiterte in Zeiten der
Inflation zwar materiell, doch die sozialdemokratische Kunststelle, die ebenfalls
Traditionslinien der Wiener Freien VolksbĂĽhne fortsetzte, holte Viertels letzte
Truppen-Inszenierung fĂĽr Kraus 1924 noch nach Wien.81 Dann war in Wien 25
Jahre lang keine Inszenierung des Regisseurs Berthold Viertel zu sehen.
Seine Vorstellungen vom Theater als gesellschaftliche Notwendigkeit und
Wirkmacht nahm Viertel mit nach Hollywood und ins Exil. Hier dachte er ĂĽber
den (Ton-)Film als neues Medium nach und mischte sich schreibend auch in
kulturpolitische Debatten um das Kino.82 1946, als Berthold Viertel nach dem
77 BV, Theater-Zukunft/Schauspieler-Sozialismus, in : Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften,
1970, 366–373/485–463.
78 Völker, Klaus, Berthold Viertels dramatische Opposition und sein Bemühen um ein Theater der
Ensemblekunst im Berlin der Zwanziger Jahre, in : Theodor-Kramer-Gesellschaft (Hg.), Traum von
der Realität, 1998, 99–120.
79 BV, Werbeschrift fĂĽr die GrĂĽndung eines Theaters in Berlin bzw. Wege zur Truppe, in : Heidenreich
(Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 247–254.
80 Ibid., 279.
81 Theaterzettel Neue Wiener BĂĽhne, 29. April 1924, E 137828, DS, WBR.
82 BV, Filmtexte bzw. Theatertexte zu Hollywood etc., K12 und K13, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359