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Erster
Weltkrieg | 313
die Flüsse Save und Drina die nordserbische Provinzstadt Šabac und dann, bis
zum Kaisergeburtstag am 18. August, das nordwestliche Valjevo zu erreichen. Es
war heiß und die Verpflegungstruppen – also Viertels Trainzug – kamen den
vorwärts getriebenen Truppen kaum nach. Bereits am 24. August befand sich
die k.u.k. Armee aber wieder in ihren Ausgangsstellungen und hatte in knapp
zwei Wochen 22.000 Soldaten und 600 Offiziere verloren. Im Gegensatz zur
österreichisch-ungarischen Armee hatte die serbische Armee modernere Waffen,
rezente Kriegserfahrung und hatte nach den Balkankriegen ihre Truppenzahl
wesentlich aufgestockt.15
Der Schriftsteller Egon Erwin Kisch, der als Infanterist dem VIII. »Prager«
Korps der 5. Armee angehörte, beschrieb die erste »regellose« Flucht zurück
über die Grenze in seinem Kriegstagebuch :
[…] [E]ine zügellose Horde rannte in sinnloser Angst der Grenze zu. […] Offiziere
und Soldaten drängten sich […] zwischen Wagenkolonnen durch und stapften im
Straßengraben, Gruppen, in denen alle Truppengattungen vertreten waren, solche mit
ziegelroten Aufschlägen auf den Blusen, solche mit dunkelgrünen und mit papageien-
grünen und mit milchgrauen : Landwehr, Heer, Kanoniere, Sanitätssoldaten, Sap-
peure.16
Inmitten dieser »Horde« mit »selbstmörderisch stattlichen Uniformen«17 be-
wegte sich auch Trainleutnant Viertel im »dunkelbraunen Rock mit lichtblauer
Egalisierung […], hechtgraue Reithose«, Pioniersäbel und »Tschako mit
Roßhaarbusch«.18
Von Viertel hat sich wenig Material zu seinen Erlebnissen in Serbien erhalten.
Auch aufgrund der Zensurbestimmungen sehr inhaltsarme Feldpostkarten an
Hermann Wlach lassen keine wirklichen Rückschlüsse auf seine Haltung in den
ersten beiden Kriegsmonaten zu : »Vom Krieg kann ich Dir momentan nicht
mehr erzählen, als daß er hier gut geht«19, schrieb er, nachdem auch die zweite
serbische Offensive im September 1914 nach tagelangem Regen gescheitert war.
Wieder gab es ungeheure Verluste. Egon Erwin Kisch weinte morgens vor
Übermüdung »grundlos und unvermittelt«, lachte nachmittags »kindisch gewor-
15 Rauchensteiner, Erster Weltkrieg, 2013, 187–197 ; Wagner, Der Erste Weltkrieg, 1981, 72–79 ;
Daniela Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. Feind- und Kriegsdarstellungen in österreichisch-
ungarischen, deutschen und serbischen Selbstdarstellungen, Frankfurt am Main u.a. 2011, 151–159.
16 Egon Erwin Kisch, Schreib das auf, Kisch !, Leipzig 1951, 81–85.
17 Deák, Offizier, 1991, 229 ; Kokoschka, Mein Leben, 2008, 145.
18 Niederösterreichischer Amtskalender für das Jahr 1915, Wien 1915, 106.
19 BV an Hermann Wlach, 7. Oktober 1914, H.I.N. 228000, Sammlung BV, HS, WBR.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359