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10 Einführung
matrecht und Staatsbürgerschaft werden von der gegenwärtigen Historiographie
nicht nur als be deutende Strukturelemente im Prozess der Territorialstaatswerdung
erkannt – als Indikatoren für die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem –,
sondern als wichtige Elemente bei der Konstruk
tion von Individualität und perso-
naler Identität.4 So bestimmt sich die Kategorie des Fremden bis Mitte des 19.
Jahr-
hunderts nicht so sehr durch eine noch durchlässige und wenig kontrollierte Außen-
grenze (die Staatsgrenze), sondern vielmehr durch innere Grenzziehungen wie etwa
den Besitz (bzw. Nicht besitz) des politischen Domicils (später Heimatrecht) oder der
Staatsbürgerschaft.5
Juden wurden und werden oft als ewig Fremde gesehen. Folgt man der älteren
Literatur, so beschreibt sie die Juden des Mittelalters und der frühen Neuzeit in den
Ländern des Heiligen Römischen Reiches als Fremde an sich, unterstanden sie doch,
als Person und mit ihrem gesamten Besitz, der kaiserlichen oder königlichen Finanz-
kammer – waren frei verfügbares Eigentum des Landesherrn.6 Servi camere nostre,
»unsere Kammerknechte«, heißen sie in einem Privileg Kaiser Friedrichs II. aus dem
Jahr 1238 – nur eine von unzähligen, ihre Anwesenheit wie ihre Lebensverhältnisse
bis ins Kleinste regelnden, über Jahrhunderte fortgeschriebenen, erneuerten, verfei-
nerten, verschärften Judenordnungen.7 Innerhalb der bestehenden Rechtsordnung
bildeten die Judenordnungen (Regale, Patente, Schützungen) ein Sonderrecht, ius
odiosum, das Juden gleichzeitig privilegierte und diskriminierte, was zu der Vorstel-
lung führte, Juden hätten in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staatenwelt
als eine besondere Nation nach eigenen Gesetzen von der christlichen Bevölkerung
getrennt gelebt. Neuere Forschungen betonen indes die strukturelle Mehrschichtig-
keit der frühneuzeitlichen Rechtsordnung, in der die verschiedensten Gruppen mit
unterschiedlichen Rechten und Freiheiten ausgestattet gewesen seien. Juden erschei-
nen darin nicht mehr als Fremdkörper in einer sonst vermeintlich geschlossenen Ge-
sellschaft, sondern als aktive Teilnehmer am Rechtsgeschehen, als Subjekte und nicht
bloß Objekte des Rechts.8 Darüber hinaus habe, so betont Friedrich Battenberg, die
4 Vgl. Charles Tilly (Hg.) : Citizenship, Identity and Social History. International Review of Social
History, Supplement 3 (1996).
5 Vgl. Hannelore Burger : Die Staatsbürgerschaft, in : Waltraud Heind/Edith Saurer (Hg.) : Grenze
und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monar-
chie 1750–1867 (Wien/Köln/Weimar 2000), S. 88–172.
6 Vgl. Johann Evangelist Scherer : Die Rechtsverhältnisse der Juden in den deutsch-österreichischen
Ländern (Leipzig 1901), S. 6.
7 Vgl. Klaus Lohrmann : Die Wiener Juden im Mittelalter. Geschichte der Juden in Wien, Bd. 1
(Wien 2000), S. 38ff sowie auch : derselbe et al.: Die Entwicklung des Judenrechtes in Österreich
und seinen Nachbarländern, in : 1000 Jahre Österreichisches Judentum. Ausstellungskatalog (Eisen-
stadt 1982), S. 25–53, hier : S. 26.
8 Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst : Zwischen Kaiser, Landesherrschaft und Halacha. Zwi-
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271