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22 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
Vertreibungen und Ausweisungen von Juden, gefolgt von Wiederansiedlungen
und Neuprivilegierungen, ziehen sich seit der Wiener Geserah (so der hebräische
Name der ersten österreichischen Judenverfolgung von 1420/21) durch die öster-
reichische Geschichte.51 In der Regierungszeit Kaiser Maximilians waren in Nieder-
österreich immer neue jüdische Landgemeinden entstanden.52 Doch gegen Ende
des 15. Jahrhunderts verschlechterte sich die Situation der Juden im ganzen Reich
dramatisch. Eine Welle des Antisemitismus, die ganz Europa erfasst hatte, sowie der
wachsende Druck der Stände (dem Friedrich III. noch standgehalten hatte), führten
zur Vertreibung der Juden aus Innerösterreich (Kärnten, Steiermark, Krain) in den
Jahren 1496/97.53 Und die niederösterreichischen Landjuden mussten jetzt, wollten
sie sich in Wien aufhalten, den gelben Flecken tragen.54
Auch im 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der großen konfessionellen Auseinan-
dersetzungen und Kriege, kam es im Reich immer wieder – häufig auf Antrag der
zu dieser Zeit überwiegend protestantischen Stände – zu Ausweisungen von Juden.
Doch mit einem Generalmandat bestätigte Kaiser Ferdinand 1529 erneut, »die Ju-
den in Österreich bei ihren Freiheiten zu belassen«.55 Diese sogenannte »Judenschüt-
zung« bezog sich allerdings bloß auf eine kleine Anzahl »generalprivilegierter« Juden.
Nur gegen hohe Steuern wurde einzelnen Juden der Aufenthalt in der Residenzstadt
Wien erlaubt. 1571 genehmigte Kaiser Maximilian II. die Ansiedlung von sieben
weiteren privilegierten Familien. In Böhmen, Mähren und Ungarn hingegen war die
Lage für Juden liberaler, hier durften sie etwa auch in bestimmten Handwerken, im
Gewerbe und im Kleinhandel tätig sein.
Empfindlicher Geldmangel veranlasste Kaiser Rudolf II. im Jahr 1582, die soge-
nannte »Hofbefreiung« einzuführen, welche
– gegen einen hohen Geldbetrag
– Steu-
erfreiheit und das Aufenthaltsrecht in der Residenzstadt des Kaisers (damals Prag)
gewährte. Anfang des 17. Jahrhunderts gab es in den österreichischen Ländern somit
drei verschiedene Kategorien von Juden : hofbefreite Juden, Juden, die bei Hofbefrei-
ten in Diensten standen, und fremde Juden. Letztere konnten jederzeit ausgewiesen
51 Die Ereignisse der Wiener Geserah (hebräisch : »katastrophales Verhängnis«), nach Martha Keil, das
wohl grausamste Geschehen in der Geschichte der österreichischen Juden vor dem Holocaust, waren
im März 2011 Gegenstand einer gemeinsamen Tagung des Instituts für die jüdische Geschichte
Österreichs und der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Die zitierten Beiträge
sollen demnächst in einem Tagungsband publiziert werden.
52 In der frühen Neuzeit existierten über fünfzig jüdische Gemeinden in Niederösterreich. Vgl. Barbara
Staudinger : »Gantze Dörffer voll Juden«. Juden in Niederösterreich 1496–1670 (Wien 2005), S.
16.
53 Einen Teil dieser innerösterreichischen Juden ließ Maximilian I. später in Marchegg, Zisterndorf
und Eisenstadt ansiedeln.
54 Dekret aus 1511, vgl. Lohmann, 1000 Jahre, S. 37.
55 Seit 1526 König von Böhmen und Ungarn, ab 1556 Kaiser Ferdinand I. Abgedruckt in : Gershon
Wolf : Geschichte der Juden in Wien 1156–1876 [Wien 1876] (Reprint 1974), S. 252f.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271