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Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 33
Familienstelle und (als drittgeborener Sohn) um Nachsicht der vorschriftsmäßigen
Eigenschaft«. Das um Stellungnahme gebetene Kreisamt in Iglau/Jíhlava berich-
tete, dass die Familienstelle seines Vaters bereits vergeben, aber eine andere noch
frei sei, um welche sich allerdings schon vier Erstgeborene beworben hätten. Die
Triescher Judengemeinde, in der es bereits dreizehn überzählige Familien gab, hatte
sich gleichwohl für den Bittsteller erklärt, weil dieser »nebst seinen übrigen guten
Eigenschaften« ein eigenes Haus und ein Vermögen von 2000 Gulden besitze. Aus
der Erwägung, dass die Gemeinde »sehr im Vermögen herabgekommen« sei und
viele verarmte Familien zu versorgen habe, trat das Kreisamt dafür ein, »dass dem
Weinberger … die Drittgeburt nachgesehen« und demselben gestattet werde, »bei
künftiger Erledigung einer Familienstelle« sich um diese zu bewerben.97
Im seltenen Fall, dass sich ausländische Juden um eine mährische Familienstelle
bewarben, war man besonders vorsichtig. Als der aus Philadelphia stammende, in ei-
ner Olmützer/Olomouc Handelsgesellschaft tätige Löwy Lyons (im Akt auch Lions)
in einem Majestätsgesuch um eine Familienstelle bat, befand das zuständige Kreis-
amt, dass man in der Sache »zwar vollkommen einverstanden« sei, da die gesetz-
lichen Bestimmungen jedoch ausdrücklich vorsähen, »dass fremde Juden […] ein
Vermögen von wenigstens 10.000 fl« auswiesen, der Betroffene sich aber außer mit
Wechselbriefen nur mit einem Schuldschein seines in Philadelphia zurückgelassen
Bruders ausgewiesen habe, rate man dazu, abzuwarten, bis der Bittsteller eine mit
seinem Vermögen in Verhältnis stehende Abgabe an den jüdischen Landesfonds und
einen angemessenen Beitrag an die Gemeinde entrichtet habe.98
Nicht in jedem Fall allerdings waren es Wohlhabende, die das Aufenthaltsrecht in
einer Gemeinde erwarben. Die für den religiösen Dienst in den mährischen Juden-
gemeinden sowie auch die für den Schulunterricht jüdischer Kinder notwendigen
Personen erhielten unabhängig von jedem Vermögen das Aufenthaltsrecht in ihrer
Gemeinde. So bittet etwa die Proßnitzer/Prostějov Judengemeinde in einem Hof-
gesuch vom März 1793, den Juden Ascher Singer als Normallehrer, Schulsinger und
Gemeindeschreiber aufnehmen zu dürfen, was ihr umgehend gestattet wird.99
Bei aller Mühsal, die das Familiantenwesen für die betroffenen jüdischen Fami-
lien bedeutete, ist doch festzuhalten, dass der staatsbürgerliche Status der Juden in
97 Mit kaiserlichem Dekret vom 16. Mai 1795 wurde Aron Weinberger der gewünschte Dispens »aus
Gnade« erteilt. Dem Bittsteller sei die erste »in Erledigung gehende Familienstelle zu Triesch« zu
verleihen. Bis dahin sei er »mit seinem Heiratsgesuch zur Geduld« zu verweisen. AVA Inneres, Hof-
kanzlei IV T 8, Mähren-Schlesien, Nr. 76 aus Mai 1795.
98 Die kaiserliche Entschließung lautete dahingehend, »dass dem Juden Löwi Lions die Zusicherung
auf eine in Zukunft erledigt werdende Familienstelle nach beigebrachtem Ausweis über sein Vermö-
gen erteilt werden könne«. Ebenda, Nr. 47 aus Oktober 1792.
99 Ebenda, Nr. 134 aus März 1793.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271