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48 Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus
traten zum Christentum über.150 Zur Ikone des neuen, transkulturellen, hybriden
Lebensstils der Wiener Tolerierten aber wurde Fanny von Arnstein (Tochter des Ber-
liner Bankiers Daniel Itzig und Ehefrau Baron Nathan von Arnsteins), die nicht nur
einen der glanzvollsten Wiener Salons führte, sondern sogar als Taufpatin eines Kin-
des aufscheint (eigentlich eine Unmöglichkeit, es sei denn, sie hatte sich, was manche
vermuten, heimlich taufen lassen, ganz so wie ihre Tochter Henriette Pereira).151
Dass die Taufe – und damit die augenblickliche Erlangung vollständiger staats-
bürgerlicher Gleichstellung (Grundbesitz- und Ämterfähigkeit, vor allem aber das
uneingeschränkte Aufenthalts- und Niederlassungsrecht) – nicht bloß eine Ange-
legenheit der Wohlhabenden und Gebildeten war, belegt der Fall Josefa Karpeles.
Im August 1810 legte die aus Mähren stammende Hebamme Beschwerde bei der
Hofkanzlei gegen ihre geplante Abschiebung aus Wien an den Ort ihrer »politi-
schen Zuständigkeit« (Nikolsburg/Mikulov), ein. Nach einem Bericht der nieder-
österreichischen Regierung hatte man versucht, Josefa Karpeles, nachdem sie ihre
Ausbildung zur Hebamme abgeschlossen hatte (für deren Dauer allein sie in Wien
geduldet war), in ihre Heimat zurückzuweisen, was nur wegen der »ungünstigen Jah-
reszeit« aufgeschoben worden war. Als Josefa Karpeles den Ernst ihrer Lage erkannte,
habe sie, so der Polizeibericht, »plötzlich den Wunsch geäußert, nach eingeholtem
hinlänglichen Religionsunterricht getauft zu werden«. Da der niederösterreichische
Statthalter, Graf Saurau, nun vermutete, dass hinter ihrer Bekehrung nur »listige
Absicht« stecke, forderte er ihr ein Revers ab, in dem sie versichern musste, sich nach
empfangener Taufe von Wien zu entfernen. Gleichzeitig empfahl er der Hofkanzlei,
das Gesuch der Bittstellerin abzuweisen. Diese allerdings hob die Entscheidung der
niederösterreichischen Regierung auf und gestattete der Hebamme Josefa Karpeles
im August 1810 »den Aufenthalt in Wien und die Ausübung ihrer Kunst«.152
In gewisser Weise kam die Taufe einem Einbürgerungsverfahren gleich, musste
doch vor jedem Taufakt die Bewilligung der staatlichen Behörden eingeholt werden,
welche die notwendigen Erhebungen über familiäre Verhältnisse, Studienfortgang,
150 Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, K1, Familienliste Eskeles .
151 Vgl. Staudacher, Konvertiten 1, S. 192f.
152 »Durch Ablegung des Judentums und Empfang der Taufe hat die geprüfte Hebamme Josefa Karpe-
les aufgehört, den in Rücksicht der Juden bestehenden Polizeivorschriften unterworfen zu sein und
von diesem Augenblicke an einen begründeten Anspruch auf alle Rechte erworben, welche den
übrigen Untertanen im Staate zukommen, unter welchen Rechten es vorzüglich gehört, solch einen
Aufenthaltsort und einen anständigen Erwerbszweig nach Gutbefinden zu wählen. Der Regierung
ist daher ausrichten zu lassen, dass sie ein nur auf Juden gehöriges Gesetz auf die Getauften (…)
anwenden will. Ebenso handlungswidrig war ihre Abforderung eines Reverses, wodurch sich die
Josefa Karpeles selbst für den Fall, wenn sie getauft werden würde, verbindlich machen musste, in
ihren Geburtsort Nikolsburg zurückzukehren, welches (…) daher als ganz willkürlich angesehen
werden muß.« AVA Inneres, Hofkanzlei IV T 1, Nr. 111 aus August 1810.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271