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128 Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit
sozialen und öffentlichen Leben, welche sich als glaubwürdige und ernste Kundge-
bungen der nationalen Zugehörigkeit darstellen«, in die Prüfung einzubeziehen.453
Opfer dieser Obsession nach eindeutiger (wissenschaftlicher) Feststellung der Nati-
onalität aber wurden vor allem Kinder im Volksschulalter, die anlässlich der Schu-
leinschreibung (oder auch anlässlich eines Schulwechsels) oft demütigenden Prü-
fungsverfahren ausgesetzt waren. Ging es vor dem mährischen Ausgleich vor allem
um die Errichtung bzw. Verhinderung von Schulen mit der Unterrichtssprache des
nationalen Gegners
– insbesondere um die Errichtung sogenannter »Minoritätsschu-
len«, dem heikelsten Problem des Nationalitätenstreits überhaupt
–, so ging es nach
dem Ausgleich vornehmlich um die Zuweisung jedes einzelnen Kindes in die »rich-
tige« Schule. Tschechische wie deutsche Ortsschulräte reklamierten nun Jahr für Jahr
Kinder aus Schulen heraus, die, aus welchen Gründen immer, eine Schule des nati-
onalen Gegners besuchen und ordneten die Überprüfung ihrer Sprachmächtigkeit,
später auch ihrer Nationalitätszugehörigkeit an. Und nicht selten waren es gerade
Kinder jüdischer Konfession, deren Nationalität in Zweifel gezogen wurde. So wies
ein Verwaltungsgerichtshoferkenntnis vom 9. Februar 1911 den Rekurs des böhmi-
schen (tschechischen) Ortsschulrats gegen den Besuch des jüdischen
– der deutschen
wie der tschechischen Sprache mächtigen – Schülers Josef Bartosch der Volksschule
Leipnik/Lipník nur deshalb zurück, weil es sich bei der Schule um eine Schule der
politischen Israelitengemeinde454 Leipnik, »eine Gemeinde mit nur einer Schule und
einer Unterrichtssprache« (in diesem Falle die deutsche) handelte und somit für den
ortsansässigen »böhmischen« Schüler gar keine andere Wahl bestand. Im Ganzen
aber bestätigte das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs den Leitsatz, wonach
Ortsschulräte nicht allein Behörden im technischen Sinne seien, sondern Organe,
die – entsprechend dem Geist des Mährischen Ausgleichs – berufen seien, »den
Rechtsanspruch ihres Volksstammes in der Richtung zur Geltung zu bringen, dass
die nach dem Gesetze den Schulen dieses Volksstammes angehörigen Kinder diesem
nicht entzogen werden« dürften. 455 Es war dies ein Krieg ganz besonderer Art, der
von beiden Lagern gegen eine vermeintliche »Germanisierung« bzw. »Tschechisie-
rung« ihrer Kinder geführt wurde. Die aggressiven Kampagnen, die über Jahrzehnte
453 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs Nr. 7846 vom 30. Dezember 1910, zit. nach : Burger, Ver-
lust der Mehrsprachigkeit, S. 87.
454 Von den ursprünglich mit Patent vom 15. 2. 1789 geschaffenen 52 politischen Israelitengemein-
den existierten nach dem provisorischen Gemeindegesetz von 1849 25 als autonome politische
Gemeinden (mit eigener Verwaltung und eigenen Schulen) fort. Aufgelöst wurden die autonomen
jüdischen Gemeinden in Mähren erst 1919. Vgl. Theodor Haas : Die Juden in Mähren. Darstellung
der Rechtsgeschichte und Statistik unter besonderer Berücksichtigung des 19. Jahrhunderts (Wien
1908), S. 25.
455 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Februar 1911, Sammlung Budwinski Nr. 7988.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271