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Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 145
Auch die zahlreichen Ausbürgerungen, die die Regierung Dollfuß aufgrund
einer zum geltenden Bundesbürgerschaftsgesetz von 1925 erlassenen Verordnung
tätigte, wonach der Verlust der Bundes- und Landesbürgerschaft dann eintreten
sollte, »wenn ein Landesbürger im Ausland österreichfeindliche Handlungen
unterstützt«516, betrafen nicht etwa Juden, sondern zunächst rund 1000 nach der
Machtergreifung Hitlers ins Deutsche Reich geflohene illegale Nationalsozialisten.
Nach der gleichen Verordnung, die zuerst gegen Nationalsozialisten gerichtet war,
wurden allerdings nach dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 fast 12 000 politische
Gegner des Austrofaschismus, vor allem Schutzbündler und Kommunisten, ausge-
bürgert. Unter diesen befanden sich auch zahlreiche Juden – wie etwa der Theore-
tiker des Austromarxismus Otto Bauer, der seine Wiener Landesbürgerschaft (und
damit seine österreichische Bundesbürgerschaft) am 3. April 1934 verlor. Diese Aus-
bürgerungen erfolgten allerdings nicht aus rassistischen Gründen, sondern wegen
der Gegnerschaft der Betroffenen zum autoritären Ständestaat.517 So blieb das Ver-
hältnis vieler Juden zu den Regierungen des österreichischen Ständestaates ambiva-
lent. Dass jedoch nicht alle mehr diesem letzten österreichischen Staat vertrauten,
belegt die nüchterne Statistik. Während es in den 1890er-Jahren einen stetigen An-
stieg des Nettozuwachses der Wiener Kultusgemeinde (Summe der Geburten und
Eintritte minus Summe der Sterbefälle und Austritte) gegeben hatte, mit einem Hö-
hepunkt im Jahr 1896 (ein Zuwachs von 999 Personen), wird die Negativbilanz seit
1921 immer größer und erreicht mit 2183 Personen im Jahr 1935 ihren höchsten
Stand.518 Dieser Abgang ist aber nicht mehr nur in den natürlichen Sterbefällen, den
Konversionen und Austritten (wobei etwa drei Viertel jener, die die Kultusgemeinde
verließen, der katholischen oder protestantischen Kirche beitraten und ein Viertel
konfessionslos blieb519) begründet, sondern in einer bereits beginnenden Auswan-
derungswelle, nicht zuletzt nach Palästina, welche von der zionistischen Fraktion
innerhalb der Kultusgemeinde organisatorisch und finanziell unterstützt wurde.
516 Art. 1 der Verordnung vom 16. August 1933, BGBl 1933/369.
517 Vgl. Burger/Wendelin, Staatsbürgerschaft und Vertreibung, S. 274f.
518 Bericht des Präsidiums, Tabelle XIIIf.
519 Stourzh, Apogee of Conversions, S. 226. Siehe dazu auch : Philomena Leiter, Assimilation, Anti-
semitismus und NS-Verfolgung. Austritte aus der jüdischen Gemeinde in Wien 1900–1944, phil.
Diss. (Wien 2003), S. 282ff.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271